Hamburg ist Bremens Ruin

Sind die Bremerinnen „besser von Leibe“ als Berlinerinnen? Das Mammutwerk „Bremen in alten Reisebeschreibungen“ klärt en passant auch die allgemeine Zukunftsfähigkeit des Stadtstaates

Von Henning Bleyl

Wenn eine Kommission des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts im kommenden Jahr Bremen bereist um die hiesige Haushaltsnotlage zu verifizieren, können die Hansestädter nun ihrerseits auf ein Kompendium historischer Erfahrungen zurückgreifen – Erfahrungen mit Bremen beim Blick vom Außen. Der Engländer Thomas Lediard war 1726 zum Beispiel überzeugt, in Bremen habe soeben eine Epidemie gewütet – „alle Männer die wir trafen, trugen lange schwarze Mäntel“. Merke: Möchte Bremen Außenstehenden den Eindruck größtmöglicher Misere vermitteln, muss es sich nur auf seine calvinistischen Modetraditionen besinnen.

Herbert Schwarzwälders neuestes Mammutwerk „Bremen in alten Reisebeschreibungen“ bietet allen, die sich um das Überleben des Stadtstaates sorgen, reichhaltiges Anschauungsmaterial. „Das Reicherwerden von Hamburg ist der Ruin Bremens“, schreibt 1699 kein Geringerer als William Bromley, der es dank seiner politisch-analytischen Fähigkeiten bis zum Speaker der Houses of Parliaments brachte. Etliche Texte üben auch den Perspektivwechsel und beschreiben den auswärtigen Besuch aus Bremer Sicht. 1830 kam der bayerische Kronprinz Maximilian Joseph incognito nach Bremen. Täglich besuchte er das Theater, „Krankenhaus, Armenhaus, Detentionsgefängnis (…) wollte er nicht sehen“, notierte man in Bremen leicht irritiert. Schon damals wollte man sich alle Mühe geben, den Süddeutschen die Soziallasten eines modernen Stadtstaates vor Augen zu führen – bis hin zur Überreichung eines Porträts der Giftmischerin Gesche Gottfried, die im Kerker ihrer Hinrichtung harrte. Oder zeugt so ein Gastgeschenk eher von Geschmacklosigkeit als von der Notwendigkeit des Länderfinanzausgleichs? Jedenfalls schien wichtig festzuhalten: „Der Kronprinz trank auf das Wohl Bremens.“ Da soll sich Stoiber mal ein Vorbild nehmen.

Die sozialen Zustände in der Hansestadt sind durchaus ein Thema für die Reisenden. „Vor nicht langer Zeit war diese Stadt bemerkenswert wegen der Zahl der Kinder, die auf den Straßen bettelten“, berichtet John Howard 1776. Howard, der als Gefängnisreformer bekannt wurde, schildert auch die Bremer Maßnahmen „zur Säuberung der Straßen von solch einem Ärgernis“ – die Einrichtung eines obligatorischen Werkhauses. Hier sah ich in zwei Räumen etwa 170 [Kinder] zwischen 6 und 9 Jahren mit kleinen Rädern spinnen.“ Die Einwohner „anderer Orte“ sähen sich bereits veranlasst, „Erkundigungen über diesen nützlichen Plan einzuziehen“.

Spannend wird das Panoptikum insbesondere durch die soziale Streuung der Reisenden: Bettelstudenten erleben Bremen naturgemäß anders als durchreisende Diplomaten oder gar die künftige polnische Königin, die als Gastgeschenk zwei Ochsen überreicht. Als gute Katholikin betont die Monarchin – respektive ein schreibender Höfling – im Reisebericht: „Man nimmt die Senatoren ohne Unterschied aus den beiden Sekten.“ Gemeint sind Lutheraner und Calvinisten. Auch andere Absonderlichkeiten fallen Außenstehenden auf, etwa die Tatsache, dass sich in der Öffentlichen Bibliothek Bücher befinden, deren Einband aus „Menschenleder“ gemacht sei. Da es sich bei den entsprechenden Schriften um Mollers „Manuale Praeoarationis ad Mortem“ handelte, befand der 1710 in Bremen weilende Gelehrte Conrad Zacharias von Uffenbach, dass sich dergleichen „zur besseren Betrachtung des Todes wohl eigne“. Zumal sich die Bremer Bibliothek wie folgt auszeichnete: „Die Bücher sind aber doch nicht nach Größe aufgestellt.“ Diese, andernorts offenbar keineswegs selbstverständliche Errungenschaft in Sachen Systematik fiel dem reiselustigen Karl Ludwig August v. Münchhausen auf – falls es nicht gelogen war.

Schwarzwälders einmaliges Kapital ist sein Privatarchiv, das nach jahrzehntelanger Forschung im Bereich der Landesgeschichte einen überquellenden Reichtum aufweist. Aber auch die Beharrlichkeit mit der der heute 87-Jährige gemeinsam mit seiner Frau Inge insbesondere Handschriftensammlungen nach Bremischem durchforstet, ist Teil des lexikalischen Phänomens Schwarzwälder. Der weitaus größte Teil der ausgewählten 100 Texte war bislang unveröffentlicht, insgesamt haben Schwarzwälders etwa 2.000 historische Reisebeschreibungen Bremens erfasst.

Der älteste dokumentierte Bericht stammt von einem Söldnerführer: Lupold v. Wedel durchstreifte in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts neben Europa auch Nordafrika und Vorderasien, hatte also reichlich Vergleichsmöglichkeiten, als er 1581 konstatierte: „Dieses ist ein scheußlicher Flecken.“ Womit wohlgemerkt nicht Bremen, sondern Delmenhorst gemeint war. An der Bischofsstadt scheint ihm vor allem das gewaltige Schöpfrad bemerkenswert, das einen Teil der Stadt mit Weserwasser versorgte. Der nächste Zeuge, Arnold van Buchel, stellt fest: „Die Frauen sind mittelmäßig von Gestalt und von beinahe milchweißer Hautfarbe.“ Wenn das schon einem Niederländer auffiel, muss es um die Sonnenstrahlung damals noch schlechter als heute bestellt gewesen sein. Außerdem bemerkt van Buchel: „Die meisten [Frauen] schliefen nach altfränkischer Sitte ohne Hemd“. Die Quellenlage des Privatgelehrten bleibt unklar, knapp zweihundert Jahre später wird sein wenig schmeichelhaftes Urteil ohnehin widerlegt: „Das schöne Geschlecht schien mir liebenswürdiger als in Berlin“, schreibt ein namentlich unbekannter Hannoveraner Beamter, „wenigstens mehr ausgewachsen und besser von Leibe“. Eben. Und um in Sachen Delmenhorst noch mal nachzutreten, muss man nur den Baron von Lahontan zitieren: „Es ist eine kleine und sehr schmutzige Stadt und riecht stark nach Misthaufen, die dort in großer Zahl unterhalten werden.“

Das historische Reisen im Sinne Schwarzwälders – mit viel Zeit zur Beobachtung und Reflexion verbunden – endet mit der Einführung der Eisenbahn. In Bremen also 1847. Als einer der letzten Zeugen kommt Friedrich Engels zu Wort. In seiner Lehrzeit bei einem Zigarrenkontor in der Martinistraße lebte er bei einem Amtsvorgänger von Pastor Motschmann im Haus, 1840 reiste er nach Bremerhaven. Was Engels von dort in einem Brief sowohl über die Bremer „Patrizier“ als auch die hiesige Opposition schreibt, ist vernichtend: Letztere sei „so beschränkt, dass ebenso schwer mit ihr über die bremischen Angelegenheiten zu sprechen ist wie mit den strengen Anhängern des Senats“. Engels Gesamturteil: „Beide Parteien überzeugen einen immer mehr, dass so kleine Staaten wie Bremen sich überlebt haben, und selbst in einem mächtigen Staatenverbande ein nach Außen hin gedrücktes und nach Innen phlegmatisch-altersschwaches Leben führen müssen.“

Herbert Schwarzwälder (Hrg.): Bremen in alten Reisebeschreibungen, 460 Seiten. Edition Temmen, 29,90 Euro