„Die Koalition hat keine Botschaft für Berlin“

2007 wird ein Bewährungsjahr für den Regierenden Bürgermeister, urteilt der Politologe Gero Neugebauer: Die Landesschulden wachsen weiter, Bürger fordern die Einlösung von Wahlversprechen, und eine geeint auftretende Opposition will Klaus Wowereit jagen

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE

taz: Herr Neugebauer, beenden Sie das wochenlange Raten: Wessen Stimmenthaltungen zwangen Klaus Wowereit bei der Kür des Regierenden in den demütigenden zweiten Wahlgang?

Gero Neugebauer: Da gibt es viele Mutmaßungen.

Mutmaßen Sie!

Meine erste Vermutung ging in Richtung Hellersdorf. Da gibt es Streitereien zwischen SPD und Linkspartei. Aber die PDS-Leute sind sehr diszipliniert, wenn es ans Abstimmen geht. Deshalb halte ich auch Ausreißer aus der SPD für möglich.

Wer immer es war: Zeugt Wowereits Abstimmungsschlappe von einer schwachen Neuauflage von Rot-Rot? Mit nur zwei Stimmen Mehrheit können fünf Jahre Regieren sehr hart werden.

Wowereit wird nur noch selten in eine vergleichbare Situation geraten. Deshalb wird es für ihn kaum Anlässe für Zitterpartien geben.

Was ist mit der Linkspartei? Die muss sich ihrer gebeutelten Basis als soziales Gewissen verkaufen.

Stimmt. Deshalb hat die Parteiführung gelobt, ihre Politik der Basis besser zu vermitteln. Das könnte kitzlig werden. Aber die Erfahrung zeigt: Auf Parteitagen folgen die Delegierten immer der Führung.

Hat der Regierungschef durch seine Angriffe gegen die Bundesregierung, den Opernstiftungschef und das Verfassungsgericht seine Rolle als Heilsbringer der Berliner SPD verspielt?

Die Kritik an Wowereits Stil der vergangenen Wochen wird sich bald erledigt haben. Im Wesentlichen kommt es darauf an, wie er die hiesigen Probleme bewältigt. Besonders wichtig ist für Wowereit, ob er dabei den Bund mit ins Boot holen kann.

Im Koalitionsvertrag steht zu Berlins drängendsten Problemen – Schuldeneindämmung, Bildungs- und Wirtschaftsförderung – vor allem Unverbindliches. Wird die Senatspolitik ebenso vage ausfallen?

Vage Vertragsformulierungen können hilfreich sein, insbesondere bei innerparteilich strittigen Themen. Ein Beispiel: Im Koalitionspakt ist von „Anstrengungen“ die Rede, die Neuverschuldung einzudämmen. Wenn die Haushaltslage besser ausfällt als geplant, kann die Regierung sagen: Wunderbar, wir haben größere finanzielle Freiräume als gedacht. Das größere Problem scheint mir etwas anderes zu sein: Diese Koalition hat keine Botschaft für Berlin. Nichts, das die Richtung für die anstehenden fünf Jahre anzeigt.

Welche Botschaft braucht denn die Stadt?

Beispielsweise „Wir wollen in dieser Legislaturperiode die Haushaltskonsolidierung weitertreiben, die Wissenschafts- und Kulturlandschaft entwickeln, damit Berlin seine internationale Ausstrahlung stärkt“.

Ist es da gut für die Kultur, wenn Rot-Rot das entsprechende Senatsressort auflöst und Wowereit unterstellt?

Wenn die Kultur dadurch näher an die Bundesebene rückt, schon. Es ist etwas anderes, ob der Regierungschef in Verhandlungen mit anderen Bundesländern die Berliner Kultur vertritt – oder nur ein Senator. Die neue Arbeitsverteilung – hier der fachlich kompetente Staatssekretär André Schmitz, dort der politisch gewichtige Regierende Bürgermeister – könnte sich auszahlen.

Und was ist mit der Haushaltskonsolidierung? Vom Ziel, das Wachsen des 61 Milliarden Euro großen Schuldenbergs zu stoppen, schweigt die Koalition seit dem Verfassungsgerichtsurteil. Hat Wowereit diesen Kampf aufgegeben?

Das kann er sich gar nicht leisten. Wowereit hat Geschenke versprochen, beispielsweise die schrittweise Beitragsbefreiung für die Kitas. Dafür braucht er Geld. Außerdem muss der Regierungschef Erfolge vorweisen, sonst leidet sein Macherimage. Wowereit kann sich nicht hinstellen und sagen: Ist mir doch egal, wenn ich friere. Warum kauft mir meine Mutter keine Handschuhe?

Und, wer kauft dem armen Berlin die Handschuhe?

Bis auf Weiteres muss Berlin die Hände in die Tasche stecken.

Also werden die Beziehungen zwischen Rotem Rathaus und Bundeskanzleramt frostig bleiben?

Nur weil die Atmosphäre zwischen den beiden Häuptlingen Merkel und Wowereit nicht stimmt, muss Berlin nicht leer ausgehen. Denn die neue Hauptstadtklausel im Grundgesetz bietet dem Senat ein Mittel, den Bund in die Pflicht zu nehmen: Die Bundesregierung muss bekennen, welche Anforderungen sie an die Hauptstadt Deutschlands stellt.

Zum Beispiel?

Der Bund kann den Einsatz Berliner Polizisten zur Sicherung der Regierung besser vergüten. Das zeigt: Nicht nur Berlin hat etwas von guten Beziehungen zum Bund. Der Bund bekommt auch etwas dafür.

Woher soll das dringend nötige Geld für Berlin kommen, wenn der Bund sich knickrig zeigt? Rot-Rot sperrt sich gegen eine lukrative Einnahmemöglichkeit: den Verkauf großer öffentlicher Wohnungsbestände. Kann die Koalition dieses Nein durchhalten?

Vermutlich schon. Zwar drängt Finanzsenator Thilo Sarrazin immer wieder auf Verkäufe. Aber die Basis beider Regierungsparteien reagiert darauf allergisch.

Trotz 100.000 leer stehender Wohnungen?

Die Mietsituation ist für die Stimmung in Berlin sehr wichtig. Da ist es egal, welche Zahl freier Wohnungen herumgeistert. Viele Wohnungssuchende sehen diese Wohnungen – in Plattenbauten in Reinickendorf oder Hellersdorf – und wollen dort partout nicht einziehen. Viel wichtiger ist, dass Leute bezahlbare Wohnungen in den Gegenden finden, in denen sie danach suchen. Gerade diese Koalition kann sich keine Politik leisten, die durch rein fiskalisches Denken den sozialen Frieden stört.

Steckt dahinter auch die Angst vor einer geeinten Opposition? CDU, Grüne und FDP geben sich neuerdings einig im Kampf gegen Rot-Rot.

Wowereit wird tatsächlich mit mehr Gegenwind rechnen müssen. Aber die alte Regel aus Länderparlamenten gilt weiter: In der Opposition gibt es Kooperationen nur selten und in einzelnen Punkten. Selbst durch die neue PDS-CDU-Zusammenarbeit in Marzahn-Hellersdorf und Schwarz-Grün in Steglitz-Zehlendorf wird sich auf Landesebene wenig ändern. Die Bürger schauen nicht auf die Arbeit der Opposition, sondern auf die der Regierung. Die Opposition muss hoffen, dass der Senat ihr weiterhin Steilvorlagen liefert wie den Fauxpas von Abgeordnetenhauspräsident Walter Momper bei der Wowereit-Wahl.

Das reicht als Oppositionsarbeit?

Langfristig natürlich nicht. Negative Kampagnen ermüden die Bevölkerung. Die Opposition muss einerseits die Regierung kritisieren, aber auch Lösungsvorschläge für Berlins Probleme liefern.

Die Grünen haben im Wahlkampf darauf vertraut. Ihr „Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser“ brachte ihnen aber nicht die Regierungsbeteiligung ein. Was müssen die Exalternativen tun?

Die Grünen stehen vor einer schweren Entscheidung. Einerseits fordern viele die Öffnung zu den sogenannten bürgerlichen Parteien, also CDU und FDP. Andere plädieren dafür, sich weiter als Alternative zur Linkspartei zu verkaufen. Die Hauptstadt-Grünen sind anders als viele andere Landesverbände. Das Personal ist oft bürgerlich, ihre Werte aber sind andere als die der Union. Fazit: Die Grünen müssen sich neuen Koalitionen öffnen und zugleich unverwechselbar bleiben.

Auch Unions-Fraktionschef Friedbert Pflüger will seine Partei für neue Koalitionen öffnen. Kann es in Berlin 2011 zu einer Jamaika-Koalition kommen?

Pflüger will sich zum Hauptkontrahenten der Landesregierung stilisieren. Dafür braucht er Hilfstruppen. Da kommen ihm die Grünen natürlich gerade recht. Die Grünen müssen aufpassen, dass sie sich nicht vereinnahmen lassen. Sonst steht Pflüger in der Öffentlichkeit als der Oppositionsführer da.

Kann Pflüger die dezimierte CDU wieder zur Volkspartei machen?

Die Zeit als sogenannte Volkspartei ist für die Berliner Union vorüber. 30 Prozent plus X – das ist ein hohes Ziel der CDU für die kommenden Jahre. Auch die SPD wird die 40-Prozent-Marke kaum mehr erreichen. Seit Jahren geben immer mehr Wähler ihre Stimme kleineren Parteien, und dieser Trend kann sich fortsetzen. Es kommt darauf an, Mehrheitsführer zu sein.

Wo steckt der größte politische Sprengstoff für das kommende Jahr?

In allen Themen, die sich um den sozialen Frieden in der Stadt drehen. Beispielsweise die Haltung Berlins zur Einführung von Studiengebühren. Oder die Schaffung sozialversicherungspflichtiger Jobs durch die öffentliche Hand und die Einführung der Gemeinschaftsschule. Auch die Familienförderung ist ein sensibles Thema: Wem soll das Land finanziell unter die Arme greifen? Nur Familien mit Kleinkindern oder auch jenen mit heranwachsenden Kindern?

Und die Frage, ob der Flughafen Tempelhof über den Herbst 2007 hinaus offen bleibt?

Die interessiert ernstlich kaum jemanden.

Ihr Vorschlag für ein Motto der Landespolitik bis 2011?

„Arm, aber sexy“ funktioniert nicht mehr. „Arm“ wird bleiben, aber pfiffig muss die Politik werden.