Ein Mann, ein Schrei

Browns Hua! und Ha! bilden das Zentrum der Revolution, die die Welt musikalisch erschaffen hatPolitisch war Brown ambivalent: Er war stolz auf Präsident Nixons Einladung, er sang vor GIs in Vietnam

VON TOBIAS RAPP

Niemand konnte schreien wie James Brown. Vom triumphierenden Aaaauuu! bis zu den vielen Dutzend verschiedener Ha!- und Hua!-Rufen – man könnte ein Lexikon der James-Brown-Schreie schreiben. Von den zu musikalischen Interpunktionszeichen zusammengeschnurrten Tanzbefehlen wie Hit me! über die Stöhner, die aus den tiefsten Eingeweiden kamen, bis zum bettelnden Pleaaaaaaase! Niemand konnte derart schreien.

Er war der wichtigste Musiker im Pop der letzten fünfzig Jahre, und das hatte viel mit diesen Schreien zu tun. Sie bilden das Zentrum von James Browns musikalischer Revolution, die die Welt erschaffen hat, in der wir heute alle leben. Im Grunde ist es ganz einfach: James Brown verwandelte alles in Rhythmus. Vormalige Melodien schrumpften auf Riff-Größe, sämtliche Instrumente verwandelten sich in Schlagwerkzeuge, und die Stimme wurde zum Taktgeber.

In der Nacht von Sonntag auf Montag ist er in Augusta, Georgia gestorben, an den Folgen einer Lungenentzündung. 73 Jahre soll er alt geworden sein, so genau weiß das niemand, es könnten auch ein, zwei oder drei mehr gewesen sein; in Barnwell, South Carolina, nahm das in den frühen Dreißigern niemand so genau. Dort kam James Joe Brown Jr. in sehr armen Verhältnissen auf die Welt. Die Familie war so mittellos, dass der Junge manchmal in einen Kartoffelsack gehüllt zur Schule gehen musste. In Umkehrung des statistischen Normalfalls verließ die Mutter die Familie, der Vater war bei der Army und gab seinen Sohn bei einer Tante ab. Die betrieb in Augusta ein Bordell, es wurde James’ neues Zuhause.

1948 wird James Brown wegen eines bewaffnetem Raubüberfalls zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er aber wegen guter Führung nur vier absitzen muss. Wieder draußen, gründet mit seinem Freund Bobby Byrd die Famous Flames. Mit „Please, Please, Please“ haben sie 1956 ihren ersten Hit. Zwei Dinge sind es, die von nun an James Brown Erfolg ausmachen: zum einen tourt er pausenlos, spielt über 300 Konzerte im Jahr, wobei ein Konzert aus mehreren Shows besteht. Zum anderen studiert er genau, worauf das Publikum reagiert – und er passt seine Musik entsprechend an.

In „Night Train“ von 1961 kann man ihn schon hören, mit „Papa’s Got A Brand New Bag“ von 1965 ist er dann vollgültig da: der Funk. Eine Musik, die ihre Kraft aus dem Groove zieht, die sich von Songstrukturen mehr oder weniger deutlich verabschiedet hat und stattdessen nur ein Ziel hat: Are you ready to take me to the bridge?

Nein, man hätte den James Brown jener Jahre nicht als Mitbewohner haben mögen. Man kann sich seine Band als großes Missbrauchskollektiv vorstellen: Brown schikanierte die Musiker, schlug seine Frauen, trieb sich selbst immer weiter. Aber es dürfte kaum einen Künstler geben, der auf so hohem Niveau so absurd produktiv war wie James Brown zwischen 1965 und 1974, als er buchstäblich hunderte von Stücken herausbrachte – eines besser als das andere, ein einziger langer fantastischer Groove. Und dabei war er fortwährend auf Tour.

Tatsächlich ist ein James Brown-Konzert nicht einfach ein Konzert. Man kann es sich heute auf DVD oder bei YouTube anschauen: es ist The Show. Mit der Band fängt es an. Diese großartige James-Brown-Band, diese Funk-Maschine, diese Ansammlung von Glücklichen, die in der besten Band der Welt spielen dürfen, dieses Kollektiv von Verlorenen, die für nicht polierte Schuhe wie für verpatzte Einsätze, für verkatertes Erscheinen wie für falsch gelesene Handzeichen Teile ihrer Gage als Strafe zahlen müssen. Diese Band, die dafür berühmt ist, dass sie übt, übt, übt. Die JBs.

Diese Band fängt also an zu spielen. Für eine ganze Weile. Bis das Publikum unruhig wird und nach dem Mann ruft, dessentwegen es gekommen ist. Stattdessen kommt Danny Ray auf die Bühne, der Mann, der sich seit den späten Fünfzigern um die Klamotten der Band kümmert. Er ruft die berühmten Worte: „Are you ready for Showtime?“, um James Brown mit einigen der zahllosen Titel, die er sich selbst verliehen hat, auf die Bühne zu holen: „Are you ready for Mister Please, Please, Please? Mister Dynamite? The Godfather of Soul? The Hardest Working Man in Showbusiness?“ Um dann zum Punkt zu kommen: „And now: the star of The Show! Jaaaaames Brown!“ Und dann geht es los.

Diese Show ist eine Feier, ein Sieg, ein Triumph. Über die Schwerkraft etwa: Auch dreißig Jahre später kann man es kaum glauben, wie James Brown aus dem Stand in den Spagat fällt und wieder hoch springt, als sei er aus Gummi. Wie er ruckt und zuckt und mit dem Mikrofonständer spielt. Es ist ein riesiges Call-and-response-Spiel zwischen Band, Publikum und James Brown selbst. Es gibt keine Setlist, die Musiker reagieren auf Handzeichen, Brown selbst auf das Publikum, das Publikum auf das, was es hört und sieht.

Und jeder Schweißtropfen, der ins Publikum spritzt, spricht auch von dem Leid, das es bedeutet, der hardest working man in showbusiness zu sein, der Erlöser dieses Publikums, der schwer an der Verantwortung trägt, die es bedeutet, es zu unterhalten. Diesen Job ernst zu nehmen, heißt alles zu geben – was meist der Moment ist, in dem James Brown auf der Bühne zusammenklappt, Danny Ray angelaufen kommt und dem Meister seinen Mantel überwirft, um ihn hinter die Bühne zu begleiten, eine Angelegenheit, die sich hinziehen kann, weil Brown den Mantel ja immer wieder abwirft, um weiterzumachen. Irgendwann muss ja auch noch „Sex Machine“ gegeben werden.

James Brown war kein Curtis Mayfield. Ja, er spielte „Say It Loud, I’m Black And I’m Proud“ ein, auch „Soul Power“. Und mit einem im Fernsehen übertragenen Konzert verhinderte er am Abend nach der Ermordung von Martin Luther King auch, dass es in Boston zu ähnlichen Krawallen kam wie in allen anderen amerikanischen Städten.

Aber als politische Figur war Brown höchst ambivalent: Auf Präsident Nixons Einladung ins Weiße Haus war er stolz. Und er spielte in Vietnam. Von den Black Panthern hielt er genauso wenig wie vom bewaffnetem Kampf: den könne man nur verlieren, sagte er. Ähnlich wie heute im Hiphop waren auch damals die Repräsentationsverhältnisse im schwarzen Pop keineswegs klar – nicht jeder bekannte Afroamerikaner ist automatisch Sprecher seiner Community.

Die James-Brown-Story handelt eher von sozialem Aufstieg, von einem Jungen, der sich von ganz unten nach ganz oben durchbeißt. Der nichts hat und eine sagenhafte Karriere hinlegt, auf deren Höhepunkt er ein Flugzeug, eine Restaurantkette, Villen, Autos, riesenschrankweise Anzüge und mehrere Radiostationen besitzt, unter anderem WRDW in Augusta, vor deren Eingangstür er als Junge noch Schuhe geputzt hatte. Das sei Black Power, sagte Brown in einem Interview. Und einer von Browns schönsten Titeln der mittleren Siebziger heißt „You Can Have Watergate Just Gimme Some Bucks And I’ll Be Straight“. So kann man es auch sagen.

Der bekannte Blues vom weißen Mann, der den schwarzen Künstler über den Tisch zieht, indem er dessen Innovationen verwässert und marktfähig macht, hat für James Brown übrigens auch nie gegolten: Es sind schwarze Künstler, die James Brown reich gemacht hat. Disco war im wesentlichen nichts anderes als verwässerter Funk, hier konnte Brown noch einigermaßen mithalten, auch wenn seine Discoplatten ab Mitte der Siebziger nicht mehr die Extraklasse der Jahre davor haben.

Dann kam Hiphop. Und die Phase, die Hiphop zu dem machte, was es bis heute ist – nämlich die erfolgreichste Popmusik des Planeten –, die entscheidenden Jahre zwischen 86 und 92, wären ohne James-Brown-Samples nicht möglich gewesen. Tantiemen hat er dafür kaum bekommen. Stattdessen nahm er „Living In America“ auf, eines seiner schlechtesten und erfolgreichsten Stücke.

Tatsächlich ist James Browns Abstieg ähnlich elend, wie der Aufstieg spektakulär war: Steuerschulden, ein viel zu aufwändiger Lebensstil, persönliche Probleme. Der große Apostel der Disziplin, der Mann, der Drogen als „Public Enemy Nr. 1“ gegeißelt hatte, begann selbst die synthetische Droge Angel Dust zu rauchen. Er lieferte sich Verfolgungsjagden mit der Polizei. Er schlug seine Frau, bedrohte sie mit einem Gewehr.

Schließlich musste er 1988 für mehrere Jahre ins Gefängnis und verlor so ziemlich alles, was er hatte. Auch nach seiner Entlassung hatte er regelmäßig Ärger mit den Behörden, auch wenn er sich zwischendrin immer wieder zusammenriss und auf Tour ging. Doch auf den letzten Polizeifotos sah er aus, als sei er aus dem gleichen Erdloch gezogen worden wie Saddam Hussein. Ein verwahrloster, alter Mann.

In seinen letzten Jahren lebte er übrigens wieder in Augusta, Georgia, seiner Heimatstadt, deren Verwaltung ihn 1953 nur unter der Auflage aus dem Gefängnis entlassen hatte, er dürfe sie nie wieder betreten. Bis in die Siebzigerjahre konnte er nur mit Sondergenehmigungen dort auftreten. Tatsächlich wurde dort aber nicht nur dieses Jahr ein Konferenzzentrum nach Brown benannt – 2005 ließ die Stadt auch ein Bronzedenkmal zu seinen Ehren errichten (ein Jahr später als ursprünglich geplant, die Verzögerung lag an einer Verhaftung Browns). Die lebensgroße Plastik steht vor dem Haus, wo Browns Tante einst ihr Bordell betrieben hat. Sie zeigt den Geehrten mit Umhang und Mikrofon, wie er stadtauswärts in die Welt hinaus lächelt. Auf besonderen Wunsch James Browns steht sie ebenerdig. Nicht auf einem Podest.