„Manche weisen Zeichen von Stockschlägen auf“

CHARITÉ Die Rechtsmedizinerin Saskia Etzold untersucht Kinder, die misshandelt oder vernachlässigt wurden. Der Hilfebedarf sei groß, sagt sie. Für einen wirksamen Kinderschutz bedürfe es umfangreicher Maßnahmen

■ 33, ist Rechtsmedizinerin und arbeitet seit Februar in der neu eingerichteten Gewaltschutzambulanz der Charité. Gemeinsam mit dem Leiter der Anlaufstelle, Michael Tsokos, hat Etzold das Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ veröffentlicht.

taz: Frau Etzold, Sie arbeiten als Rechtsmedizinerin in der neuen Gewaltschutzambulanz der Charité, bei der Menschen ihre Verletzungen gerichtsfest dokumentieren lassen können. Die Anlaufstelle gibt es seit Februar. Wie wird sie angenommen?

Saskia Etzold: Gut. Wir haben bislang knapp 50 Personen untersucht, darunter waren 18 Kinder und Jugendliche. Bei den Erwachsenen überwiegen eindeutig die Frauen. Manche haben häusliche Gewalt erlebt, andere wurden überfallen.

Was haben Sie bei den Kindern festgestellt?

Manche weisen großflächige Verletzungen auf, Hautunterblutungen, Bissmarken oder Zeichen von Ohrfeigen oder Stockschlägen. Es kommen aber auch einige, die keine Verletzungen, aber Hinweise auf eine gewisse Vernachlässigung haben.

Eine Frau, die häusliche Gewalt erfahren hat, kann allein zu Ihnen kommen. Wer bringt die Kinder und Jugendlichen?

Die werden in der Regel von Mitarbeitern des Jugendamts gebracht. Wenn ein Kind aus einer Familie genommen wurde und in eine Einrichtung kommt, stellen manchmal auch Erzieher dort Verletzungen fest. Sie müssen das Jugendamt um die Erlaubnis für eine Untersuchung bitten und kommen dann zu uns. Kinder, die nicht vom Jugendamt in Obhut genommen wurden, kann ich nur untersuchen, wenn die Erziehungsberechtigten dem zustimmen.

Was passiert, wenn Sie bei einem Kind beispielsweise Hautunterblutungen feststellen?

Wir machen eine schriftliche Dokumentation, die an das Jugendamt geht. Dort haben die Mitarbeiter dann schwarz auf weiß, dass ein Kind Gewalt erfahren hat, und können besser entscheiden, wie sie es schützen müssen. Sie selbst sind ja keine Ärzte und können Verletzungen nicht so gut beurteilen. Die Dokumentation kann auch vor dem Familiengericht nützlich sein, wenn verhandelt wird, wer sich in Zukunft um ein Kind kümmert. Es ist übrigens kein Wunder, dass Jugendamtsmitarbeiter Verletzungen nicht unbedingt erkennen. Das Thema Kindesmisshandlung gehörte bislang nicht zur Ausbildung der Sozialpädagogik. Die Sozialpädagogen sind aber die, die nachher in den Jugendämtern sitzen.

Kümmern Sie sich ausschließlich um Spuren körperlicher Gewalt?

Nicht nur. Wir stellen auch fest, wenn ein Kind entwicklungsverzögert ist, wenn es nicht läuft oder spricht, obwohl das altersgemäß wäre, oder wenn es psychisch auffällig ist. Dann empfehlen wir weitere Arztbesuche, damit möglichst schnell gegengesteuert wird.

Sie haben mit Ihrem Kollegen Michael Tsokos das Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ veröffentlicht. Darin beklagen Sie das Versagen der staatlichen Institutionen, unter anderem der Jugendämter. Warum?

Das Problem der Jugendämter ist, dass wir dort eine viel zu geringe Mitarbeiterzahl haben. Manche von ihnen haben 80 bis 120 Fallakten auf dem Tisch. Dass sie nicht in der Lage sind, diese Familien zu kennen, wie sie sie kennen müssten, dürfte jedem klar sein. Das führt dazu, dass viele Kinder durch das Raster gleiten.

Sie sehen Ihre Aufgabe darin, den Kindern das notwendige Gehör zu verschaffen?

Wir sorgen mit dafür, dass die Kinder die Hilfe und Förderung bekommen, die sie brauchen. Die meisten Jugendamtsmitarbeiter nehmen unsere Einschätzung gerne auf. Natürlich gibt es einzelne, die sagen: Nein, die Eltern sind nett, die schlagen ihre Kinder nicht. Da kommt man dann nicht weiter. Aber die sind zum Glück die Ausnahme.

Sie fordern auch eine Kinderschutzambulanz für Berlin. Wie genau müsste die aussehen und ausgestattet sein?

Es wäre sinnvoll, eine Anlaufstelle aufzubauen, die direkt an eine Klinik angebunden ist. Bislang schicke ich nur Kinder mit akuten Verletzungen in die Rettungsstelle. In einer Kinderschutzambulanz könnten wir nicht nur die Dokumentation, sondern auch die Diagnostik anbieten. Wenn mir etwas an einem Kind auffällt, könnte ich nebenan klopfen und den Kinderarzt oder den Kinder- und Jugendpsychiater einbinden. Heute spreche ich Empfehlungen aus für Ärzte, die teils monatelange Wartezeiten haben. Der kurze Dienstweg wäre da ein großer Vorteil.

INTERVIEW: ANTJE LANG-LENDORFF