hopsi superheld von HARTMUT EL KURDI:
Ich weiß nicht mehr, wie und wann Walther Brüssler in unser Leben trat. Ich muss etwas sechs, sieben gewesen sein, da war er einfach irgendwann da. „He appeared from out of the nothing“, wie es bei P. G. Wodehouse heißt. Und trotz dieses scheinbar leichtfüßigen Auftauchens hatte er einiges im Gepäck: einen 72er Ford Capri, einen Farbfernseher und eine komplette, aus einem Konkurs gerettete Gaststättenausstattung inklusive Kisten voller drolliger Minimilchkännchen. Und ein Holzbein! Das richtige Bein hatte er „in Russland verloren“. Obwohl ich wusste, dass die Bein-ab-Geschichte irgendetwas mit dem Krieg zu tun hatte, in dem auch einer meiner Onkel „gefallen“ war, drängte sich mir doch jedes Mal, wenn vom „verlorenen Bein“ die Rede war, die Vorstellung einer gigantischen Schussligkeit auf. Ein gnadenloses „Hoppla, wo isses denn?“
Am meisten beeindruckte mich an Brüsslers Prothese das Geräusch, wenn er es abends nach einem langen, heißen Tag abnahm. Es war ein „Plopp“ mit einem feuchten, schmatzenden Beilaut. Das gefiel mir. Ansonsten war mein dominierendes Gefühl Brüssler gegenüber Abscheu, der vor allem daher rührte, dass ich ihn und meine Mutter kurz nach seinem Einzug belauscht hatte. Brüssler war ärgerlich: „Ich hab dir gesagt, wenn ich hier einziehe, dann muss die Ratte raus!“ Damit meinte er nicht etwa mich, sondern meinen Goldhamster „Hopsi“, der bei ihm eine alte, aus dem Krieg stammende Nagetierphobie reaktivierte.
Ich beschloss, meinen Hamster mit meinem Leben zu verteidigen. Wie sich herausstellte, konnte sich Hopsi ganz gut alleine wehren.
Überhaupt war das Pelztierchen ein ziemlich autonomes Wesen. Immer wieder nutzte es seinen Freigang auf dem Wohnzimmerteppich zu Fluchtversuchen. Meist blieb Hopsi dann mehrere Tage verschwunden, nie länger als eine Woche. Zwar wusste ich, dass er sich irgendwo hinter dem Schlafzimmerschrank versteckte, wo genau war aber nicht herauszufinden. So ließ ich mich durch seine Kackköttelspuren beruhigen und wartete einfach darauf, dass er von selbst wieder auftauchte. Meist ließ er sich dann unaufgeregt und ohne Widerstand zurück in den Hamsterknast bringen. Das war alles sehr unspektakulär. Einmal jedoch sorgte er mit seiner Rückkehr für einige Minuten der Hysterie in unserer Wohnung.
Das hing damit zusammen, dass Walther Brüssler sein Holzbein nachts neben dem Bett parkte, aufrecht an der Wand stehend, um morgens als Erstes seinen Stumpf in den ledergefütterten Schaft zu stecken und dann zum Klo zu humpeln. Ich kann versichern, dass der Panikschrei eines erwachsenen, weltkriegsgestählten Mannes kein schönes Geräusch ist. Ich rannte ins Schlafzimmer, sah Brüssler kreischend auf dem Bett, sein Stummel blutete, das Holzbein lag auf dem Boden – und Hopsi war grade dabei, in Richtung Schrankasyl zu verduften. „Die Ratte hat mich gebissen, die saß in meinem Bein, die hat mich gebissen!“, keifte er. Meine Mutter hielt sich die Hände vors Gesicht.
Kurz danach zog Walther Brüssler aus. Warum, sagte mir keiner. Ich wusste es auch so. Hopsi war mein Held.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen