DEUTSCHLAND – GHANA IN DER ALTEN FÖRSTEREI
: Thriller auf dem Wohnzimmer-TV

VON JURI STERNBURG

Wie zwei angeschlagene Boxer stehen sich die beiden Teams jetzt gegenüber, jeder bereit für den Lucky Punch. Bei 30 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit schleppen sich die Spieler über den Platz. Wir hingegen lümmeln gemütlich in unserem Sofa, ab und zu pöbelt mal einer rum oder besorgt neue Getränke. Mein Sitznachbar trägt nur einen Bademantel und Schlappen, wieso auch nicht, wir sind ja unter uns.

Zumindest fast. Denn im Stadion An der Alten Försterei stehen neben unserem noch rund 2.000 weitere Sofas auf dem Spielfeld, alle besetzt mit Menschen, die die Sitzmöbel vor wenigen Wochen eigenhändig hier vorbeigebracht haben, um aus der Spielstätte des 1.FC Union Berlin das größte Wohnzimmer der Welt zu machen. Die eigentlichen Sitzplätze wurden verhängt, eine riesige 70er-Jahre-Tapete umgibt uns, überdimensionale Nachttischlampen und Dolby-Surround-Boxen vervollständigen die Illusion. Wie auch in den eigenen vier Wänden gilt hier das Motto: Meine Welt reicht vom Kopfkissen bis zum Flachbildschirm.

Erstaunlicherweise hält sich die Deutschland-Hysterie (eine weitere Parallele zu meiner Wohnung) ausgerechnet hier in Grenzen, was nicht bedeutet, dass die Zuschauer die Mannschaft von Ghana anfeuern, aber der Unioner an sich glaubt an die Vereinsliebe und sieht die WM eher als beiläufiges Spektakel, immerhin hängt das Fußballherz schon zu 90 Prozent am eigenen Verein. Da bleibt nicht mehr genug übrig, um andauernd vom Sofa aufzuspringen oder sich im Schland-Taumel einzunässen. In Schwarz-Rot-Gold gekleidete Eventkreischer mit Deutschland-Irokesen und vollgeschmiertem Gesicht sind eher die Ausnahme. „Kuntergrau“ ist vielleicht eine ganz gute Beschreibung für das optische Spektakel, das sich einem hier bietet: Es ist und bleibt eben ein Wohnzimmer, auch wenn sich zwei oder drei Menschen mehr dort einfinden als bei der letzten WG-Party.

Das Spielt entwickelt sich zu einem echten Thriller, 2:2 steht es inzwischen, Klose hat soeben den Ausgleich erzielt und damit den ewigen Torrekord von Ronaldo eingestellt. Der Bademantelträger neben uns hat tatsächlich einen Fön dabei, nur die Steckdose sucht er vergeblich. Ein Hauch von britischem Humor umweht ihn, genau wie die ganze Veranstaltung. Nicht alles so ernst sehen, auch mal über sich selbst lachen, und wenn man das nicht kann, dann wenigstens die Fresse halten und nicht dauernd in irgendeine Vuvuzela blasen. Ziemlich sympathisch also, schließlich sollte man den Fußball als Spiel feiern und nicht als Fan-Karikatur durch die Gegend laufen, um die neuen Flaggen-Gadgets von Edeka auszuführen.

Das Spiel endet verdientermaßen unentschieden, und während mein Sitznachbar Fön und Schlappen verstaut, fällt mir auf, was in diesem Riesen-Wohnzimmer fehlt: das angrenzende Schlafzimmer.

Heimmannschaft: Der handelsübliche Köpenicker präferiert die deutsche Mannschaft und ist bei allen anderen Spielen meist für das vermeintlich schwächere Team

Gästeblock: Das Sofa ist das eigene Refugium. Solange man nicht im Hertha-Trikot aufläuft, ist alles erlaubt

Stadionimbiss: Der Picknickkorb muss merkwürdigerweise zu Hause bleiben. Verpflegung gibt es, wie sonst auch, zu saftigen Preisen an den Stadionbuden

Ersatzbank: Wer hier nicht unterkommt, sollte einen mobilen Fernseher mithaben. Die Umgebung ist dünn besiedelt und glänzt eher durch Dönerbuden mit „Trink 5, bezahl 4“-WM-Angeboten

Rote Karte: Ohne Sofa muss man leider mit den Sitzschalenplätzen im hinteren Bereich vorliebnehmen oder hoffen, dass einige der Sofa-Eigentümer nicht erscheinen.