Viele Köpfe, noch mehr Hände

ZEICHENTRICK Eine Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien gibt Einblicke in das Universum der japanischen Animes

VON EKKEHARD KNÖRER

Drei Millionen Besucher hatte im Sommer 2009 „Evangelion 2.2: You can (not) advance“ in Japan, der jüngste Kinofilm aus dem Universum der „Neon Genesis Evangelion“-Serie. Er landete in den Charts auf Platz eins, Blu-Ray brach ein knappes Jahr später am ersten Verkaufstag alle Rekorde. Das bewies nur erneut, wie sehr Animes, also die japanische Version des Zeichentrickfilms, zentraler Teil der japanischen Massenkultur sind – nicht weniger als die Manga genannten Comics, auf denen viele der Filme beruhen.

Wie viele andere dieser Werke ist „Neon Genesis Evangelion“ eine wilde Mixtur aus Science-Fiction und Mythologien. Die Serie erzählt vom Kampf von Jugendlichen gesteuerter Kampfmaschinen namens „EVA“ gegen „Engel“ genannte Kreaturen ungeklärter Herkunft. Bezüge aufs Christentum als Hintergrundmythologie sind überdeutlich, Anspielungen auf Kulturartefakte aus aller Welt liegen im Hintergrund. Auch weil sie umstandslos vieles verschmilzt, erlangte die von Hideaki Anno vor 15 Jahren geschaffene Fernsehserie weltweite Verbreitung und mutiert in Fernseh- und Kino-, in Manga- und Videospielvarianten munter bis heute weiter.

Tokio war ein Wasserreich

Hideaki Anno ist einer der Protagonisten der Szene, die die im Künstlerhaus Bethanien gastierende Ausstellung „Proto Anime Cut“ näher vorstellt. Sie ist vom Wunsch, eine Gesamtübersicht über das riesige Feld zu geben, zum Glück weit entfernt – die Selbstbehauptung, man zeige „Originalzeichnungen der wichtigsten Regisseure und Illustratoren“ des Anime, nimmt den Mund da deutlich zu voll. Das eigene Universum „Studio Ghibli“ mit dem erfolgreichsten aller Anime-Regisseure Hayao Miyazaki etwa bleibt ebenso wie „Akira“-Schöpfer Katsuhiro Otomo oder das Werk des jüngst verstorbenen Satoshi Kon außen vor.

Vielmehr geht es um eine aufs Science-Fiction-Genre konzentrierte Entwicklungslinie, die mit dem ersten Kinofilm des von Hideaki Anno mitgegründeten „Studio Gainax“ im Jahr 1987 ihren Ausgang nahm. Im Blickpunkt stehen einige (durchweg männliche) Anime-Protagonisten der zwischen 1950 und 1960 geborenen Generation. Neben Hideaki Anno ist das vor allem Mamoru Oshii, der mit seinen „Ghost in the Shell“-Filmen und anderen Werken längst ein gern gesehener Gast der großen Filmfestivals dieser Welt ist. Er steht im Zentrum der Ausstellung, die kein hagiografisches, sondern ein analytisches Interesse hat.

Die ausgestellten Originalfotografien und -zeichnungen werden nämlich nicht als Fetisch behandelt, sondern als Zeugnisse von Entstehungsgeschichten. Was im organisch fließenden, komplexen Anime-Bild zusammenkommt, nimmt „Proto Anime Cut“ in der Darstellung seiner Herkünfte und Ursprünge wieder auseinander. Da erkennt man, wie der in Oshiis Auftrag durch die Welt reisende Fotograf Haruhiko Higami Maskenmotive aufspürt, die in „Ghost in the Shell: Innocence“ dann in völlig andere Kontexte versetzt auftauchen. Ein anderes fotografisches „location scouting“ erkundet die verborgene Welt der vom einstigen Wasserreich Tokio verbliebenen Kanäle; eine Serie von Strommast- und Stromleitungsfotografien Hideaki Annos erdet wiederum seine scheinbar so fantastische „Evangelion“-Zukunftswelt in der japanischen Gegenwartswirklichkeit.

Verrückt nach Bassetts

Bewundern darf man außerdem die Detailwut des Layouters Takashi Watabe und die atmosphärischen Entwürfe des Art Directors Hiromasa Higura. Der notorisch bassettverrückte Mamoru Oshii, der sich vor allem um die Gesamtentwürfe und die detailreichen Hintergrundlayouts seiner Filme selbst kümmert, segnet die Skizzen und Ideen der Mitarbeiter mit seinem charakteristischen roten Hundekopfstempel ab. Kleine Kunstwerke für sich sind seine sehr präzisen und eleganten Storyboards, von denen man leider nur ein Exemplar auszugsweise zu sehen bekommt. Zwar gilt, dass Animes traditionell Ergebnis der Zusammenarbeit sehr vieler Köpfe und Hände sind. Vorgestellt wird in „Proto Anime Cut“ allerdings auch der vor allem als Musikvideokünstler hervorgetretene Koji Morimoto, der, so weit es nur möglich ist, seine spektakulären Filme von eigener Hand fabriziert.

Das ist so anachronistisch wie die Arbeit der in „Proto Anime Cut“ präsentierten Künstler in manchem Aspekt überhaupt. Während das Anime-Alltagsgeschäft längst digitalisiert ist, integriert Mamoru Oshii nur zögerlich – wenn auch mit beeindruckender Wirkung – digitale Effekte in seine jüngsten Filme. Die Zukunft des Anime sieht anders aus als das, was diese Ausstellung präsentiert. Als Blick auf ein untergehendes Großreich ist sie freilich kein bisschen weniger interessant.

■ „Proto Anime Cut“, Künstlerhaus Bethanien, Di. bis So., 14 bis 19 Uhr. Bis 6. März