Vita activa

Elefanten in der Zirkuskuppel – ratlos: Die Erkenntnisse der Verhaltensforschung über Ursachen und Möglichkeiten der Dressurbereitschaft von Tieren werden im Zirkus mehr und mehr umgesetzt

VON CORD RIECHELMANN

Jahresendzeit ist hierzulande im Fernsehen wie in Berlin Zirkuszeit. Daher konnte man über Weihnachten Harpe Kerkeling auf einem zweihöckrigen Trampeltier verkehrt herum durch eine Zirkusshow reiten sehen, wobei er die Vorzüge des Tiers in Autometaphern pries – man konnte nur noch wegzappen. Im Radio lud zeitgleich eine muntere Stimme zum Besuch des Moskauer Staatszirkus’ ein, der irgendwo in der Nähe des Olympiastadions gastiert. Achtzig Tiere sollen dort zu sehen sein, schwärmte die Stimme – darunter auch zwölf echte Rentiere.

Nicht dass man jetzt gleich dahin wollte, als man die Werbung gehört hatte. Wenigstens aber werden sie im Moskauer Staatszirkus ohne Harpe Kerkeling auskommen. Auch ohne Tiere kommt seit Jahren der von Bernhard Paul geleitete Zirkus Roncalli aus, dessen Programm zurzeit im Tempodrom zu sehen ist. Für jemanden, der wie ich, früher, als er klein war, weder die Clowns der über die Dörfer der norddeutschen Tiefebene ziehenden Zirkusse besonders lustig noch die zerzausten Tiere in ihren Käfigen exotisch fand, sondern so armselig, dass er nie genau wissen wollte, wie das Leben im Zirkus so ist, wäre das vielleicht eine Möglichkeit, die alten Urteile am so gelobten modernen Zirkus zu überprüfen.

Dachte ich und hätte es mir auch sparen können. Denn erstens ist Roncalli von Clowns dominiert, die mir immer noch nicht sympathischer geworden sind, für die meisten Kinder wohl aber in Ordnung. Jedenfalls lachten die ausdauernd. Entscheidend war aber ein anderer Eindruck: Die durch angedeutete Darstellerbewegungen Illusionstiere sind zwar erkennbar – aber sie funktionieren nicht. Wenn etwa Peter Shub mit seinem vorgestellten Hund an der Leine auftritt, der den Herren im Trenchcoat zieht, wie er will, dann sieht man vor seinem geistigen Auge das Klischeebild hunderter wirklicher Hunde, die in Berliner Parks dasselbe tun. Über den Hund aber sagt es nichts, rein gar nichts. Gegenüber David Hockneys „Dog paintings“ oder Francis Bacons grandiosem Bild „Man with Dog“ ist der „Lufthund“ nur Kitsch. Zurück bleibt ein derartiges Ungenügen gegenüber dem Tier, dass es einen ärgerte. Es war wie bei den Tierstellen in den Texten von Elias Canetti und Jorge Louis Borges: Sie verfehlen das Tier gerade in dem Versuch einer vermeintlich aus Beobachtung gewonnenen und in Worten oder Gesten nachgestellten Genauigkeit.

Die so ins Innere, in die menschliche Vorstellungskraft gezogenen Tiere bleiben merkwürdig schal, gerade weil man ihnen Gutes tun will. Wie viel genauer und gleichzeitig entrückter – heißt: für Menschen unverständlicher – waren da die Tigerdarstellungen in Jean-Jacques Annauds Fabel „Zwei Brüder“. Annaud drehte seine Geschichte mit dreißig in Gefangenschaft geborenen und von einem Tiertrainer exzellent präparierten Tieren. Weil der Film eben nicht wie der Zirkus in Echtzeit „lebt“, konnte er sich ganz nach den Tieren richten und sie, wenn sie keine Lust mehr hatten, austauschen, also doubeln lassen. Ein Verfahren, das dem Zirkus von vornherein nicht zur Verfügung steht. Das hat natürlich auch Folgen für die Dressur.

Horst Stern hat in den Siebzigerjahren einen großartigen Film über die Bedingungen der Zirkusdressur gedreht. Wenn man den Film heute noch mal ansieht, bekommt man gerade in der gezeigten Tigerdressur einen Eindruck von dem Umbruch, den die damals als Modewissenschaft einflussreich gewordene Verhaltensbiologie auch im Zirkus auslöste. Stern porträtiert einen Dompteur, der mit drei Tigern zusammenlebt und als einer der Ersten versuchte, die Tiere so zu nehmen, wie sie waren.

Noch in den Siebzigerjahren wurden im Moskauer Staatszirkus den sibirischen Tigern die Krallen und Eckzähne herausoperiert. Nicht selten wurden die zahnlos gemachten Tiere während der Show zusätzlich unter Drogen gesetzt. Der von Stern gezeigte Dompteur arbeitet mit gezähnten Tigern und ohne Drogen. Über die Gefahren dieser Arbeit ist er sich im Klaren. Sie funktioniert nur so lange, solange die mit der Flasche aufgezogenen Tiger noch nicht geschlechtsreif sind. Also bis ins zehnte Lebensjahr. Darüber hinaus muss er ständig die Stimmungsschwankungen der Tiere voraussehen können. Eine tierpsychologische Leistung ersten Rangs, wie Stern zu Recht feststellt.

Wie wenig aber auch dieses Tierwissen manchmal schützen kann, wurde drastisch klar, als am 3. Oktober 2003 ein Tiger namens Montecore im „Mirage“ in Las Vegas die berühmteste Tiershow der Neuzeit, Siegfried und Roy, durch eine Attacke auf Roy auf unbestimmte Zeit beendete. Neu war damals nicht der Unfall Roys. Es waren die ungewöhnlich sachlichen Reaktionen. Man wünschte Roy Horn gute Besserung und verurteilte den Tiger nicht. Zur Sympathie mit Roy Horn gesellte sich in den meisten Kommentaren eine Kritik an der Show, deren Tenor Dan Mathews, Vizepräsident der Tierschutzorganisation „People for the Ethical Treatment of Animals“, zum Ausdruck brachte, indem er notierte, dass eine Bühne mit stampfender Musik und schreiendem Publikum eben nicht der natürliche Lebensraum eines Tigers sei.

Und damit wird es wirklich kompliziert. Man kann nämlich die Shows nicht einfach stoppen und die Tiger wieder frei rumlaufen lassen. Schlicht weil es den Lebensraum und damit den Tiger in sogenannter Freiheit in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird. Dafür aber zweite in Zoos und Zirkussen gezüchtete Population von Tigern nach wie vor konstant ist beziehungsweise sogar zunimmt. Und diesen Tigern, das lehrt die Verhaltensforschung, geht es besser, wenn man sie beschäftigt. Ein gesundes Tier ist aktiv, hat Konrad Lorenz mal gesagt.