„Der Wecker enthält kein Gift“

Europa bringt Berlinern mehr, als viele wahrhaben wollen, sagt Dagmar Roth-Behrendt (SPD). Die deutsche Ratspräsidentschaft sei zum Erfolg verdammt, meint die Vizepräsidentin des EU-Parlaments

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE

taz: Frau Roth-Behrendt, war Ihr Weihnachtsessen bio?

Dagmar Roth-Behrendt: Natürlich. In London, wo ich die Feiertage verbracht habe, war das gar kein Problem. Der Lachs kam von einem Händler meines Vertrauens. Die Kartoffeln stammten aus der Nähe und waren aus biologischem Anbau. Die Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel hat übrigens das EU-Parlament eingeführt. Und sie ist Alltag in jedem Berliner Supermarkt.

Vielen Berlinern erscheint Brüssel dennoch weit weg. PDS-Landeschef Lederer nannte die Hauptstadt jüngst ein „gallisches Dorf“. Ist Berlin allein?

Viele Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker kennen gar nicht alle Chancen, die die EU ihnen bietet. Natürlich wissen sie, dass die Europäische Union ihnen Mittel gibt. Im Alltag nutzen viele Politiker jedoch nicht alle Fördermittel und Kofinanzierungen durch die EU. Zugegeben: Da ist Berlin besser als vor fünf oder sieben Jahren. Aber es macht mich noch nicht glücklich.

Muss Berlin in Brüssel selbstbewusster auftreten? Die Landesvertretung der Bayern residiert sogar in einem Schloss.

Wir können uns nicht 20 oder 25 Mitarbeiter leisten wie das reiche Bayern. Aber auch da ist Berlin besser geworden. Seit einiger Zeit haben wir Staatssekretäre, die ihren Job ernst nehmen und die Brüssler mit den Berlinern vernetzen. Den Bayern hat ihr Schloss übrigens bislang nicht viel gebracht.

Wie spürt der Durchschnittsberliner die Folgen Ihrer Arbeit?

Machen wir es ganz einfach: Sie stehen morgens auf. Der Wecker, der Sie weckt, enthält keine Schwermetalle oder andere Gifte. Sie setzen Kaffee auf und putzen sich die Zähne. Ohne Angst haben zu müssen, das Leitungswasser zu trinken. Um die Reinigung des Abwassers müssen Sie sich auch keine Sorgen machen. Hinter all dem und vielem mehr stecken Gesetze des Europäischen Parlaments. Beim Verbraucherschutz entscheidet Brüssel seit Jahren über 90 Prozent der Gesetzgebung.

Wie oft müssen Sie Ihren Wählern diese Beispiele herunterbeten?

In Berlin ist es sehr unterschiedlich. Schulklassen sind meist gut vorbereitet. Die wissen meistens, dass das Parlament die Gesetzgebungskompetenz in vielen Bereichen hat. Viele Besuchergruppen wissen vielleicht nicht detailliert Bescheid, stehen der EU aber offen gegenüber. Bei Kleingärtnern ist das schon schwerer.

Viele Beobachter hoffen auf die anstehende EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. Was lässt sich binnen sechs Monaten erreichen?

Wir sind das größte EU-Land, da müssen wir mehr erreichen als andere. Auch im Verfassungsprozess. Wir sind heute schon nicht mehr verhandlungsfähig. Schon das Europa der 15 Staaten funktionierte mit dem Vertrag von Nizza nicht. Mit 27 Mitgliedsländern erst recht nicht.

Was muss sich ändern?

Beispielsweise müssen wir die halbjährlich wandernde Ratspräsidentschaft abschaffen. Außerdem fehlt uns seit Jahren eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Wir brauchen ein Gesicht, das Europa nach außen repräsentiert. Und noch etwas: Bei 27 Mitgliedstaaten ist es Unsinn, dass jeder einen EU-Kommissar stellt. Schon heute sucht man händeringend nach Aufgabenbereichen für die Bulgaren und Rumänen. Was deren Kommissare den ganzen Tag machen sollen, ist mir ein Rätsel.

Eine Menge Themen. Was können Sie als Vizeparlamentspräsidentin bewegen?

Es gibt einen Berg anstehender Entscheidungen: Bei Gesetzesvorhaben über medizinische Hilfsgeräte oder neuartige Therapien erhoffe ich während der deutschen Ratspräsidentschaft den Durchbruch.

Sie sind seit 17 Jahren im EU-Parlament, arbeiten in Brüssel und Straßburg, ab und an auch bei Ihrem Mann in London. Ist Berlin da nicht weit weg?

Berlin ist meine Heimat. Bis kurz vor Weihnachten war ich da. Nur dort fühle ich mich zu Hause.

Als Politikerin müssen Sie das sagen. Sie haben einen Wahlkreis zu verteidigen.

Das ist es nicht. Ich baue gerade ein Haus in Spandau.