BELGIEN – RUSSLAND IM KVARTIRA 62
: Auf den Wodka ist Verlass

VON MARGARETE STOKOWSKI

Am Sonntagmorgen bringe ich S. zum Hauptbahnhof. Als wir auf den Zug warten, kommt am anderen Ende vom Bahnsteig eine Horde grölender Typen die Treppen hoch. S. fragt: „Sind das schon die Russen?“ „Hör uff“, sage ich, und hinten grölt jemand „öhja öhja ey“. „Nee“, sage ich, „so klingen keine Russen.“

Am Ende sind die Russen in unserer Kneipe natürlich zahm wie Hundebabys. Wir gucken Belgien gegen Russland im Kvartira 62, Lübbener Straße, Kreuzberg. Es ist das erste Mal seit ungefähr 1998, dass ich ein ganzes Fußballspiel sehe. Wir setzen uns raus, die Hälfte der Plätze ist frei.

Während die Hymnen gesungen werden, checken wir die Karte. Borschtsch ist aus, wir nehmen Vareniki mit Kartoffelfüllung. Dazu Bier, H. nimmt Baltika (aus Russland) und ich Zywiec (aus Polen). Das Baltika ist etwas dünn, H. findet’s super, das Zywiec schmeckt wie immer. Stabil und gut.

Dann: Anstoß, erste Runde Wodka. Nemiroff Birkenwodka, aus Birkenwasser gebraut. Klarer, leichter Wodka, blümchenmäßig, frisch und interessant. Im Abgang eine Erinnerung an das Birkenwasser für die Haare, das zu Hause mal eine Zeit lang im Bad stand. Trotzdem angenehm.

Spiel läuft. Langweilig. Zweite Runde Wodka. Nemiroff Honig-Pfeffer-Wodka. Gelb-rötliche Farbe, mild süßer Honiggeschmack, der Pfeffer ist kaum merkbar. Laut Karte „sehr wärmend“ und „heilend“. Frage H., ob er schon was merkt von der Heilung. Nö. Zum Wodka werden saure Gurken gereicht.

Fußball läuft weiter, ist weiterhin langweilig. Leider hakt die Übertragung, das nervt, wir setzen uns rein, da läuft es besser. Langsam füllt sich der Raum, Frauen mit großen Handtaschen kommen und Männer mit sehr kurzen Haaren.

Gut, dass ich mir für den Notfall ein Sudokuheft mitgebracht hab. Das Kvartira ist übrigens sehr hübsch, drinnen sind die Wände bordeaux-gold-gemustert, oben ein Kronleuchter. Letztes Jahr hab ich hier in meinen Geburtstag reingefeiert.

Erste Torchance Russland, verpasst, Pech. Die Vareniki kommen. Mit Schmand, Salat und Gurke. Lecker.

Tor für Belgien; Stöhnen

Dritte Runde Wodka: Pinienkernwodka. Klar, mittelleicht, Pinienkerne erkennbar, aber Spiritusgeschmack stärker. Kein Knaller. Nächste Sorte Wodka gleich hinterher: Bernsteinwodka. Bernsteinfarbig, als „herb“ und „harzig“ in der Karte angekündigt. Leicht harzig, ja, okay, ansonsten unspannend.

Kurz vor der Halbzeit wird eine Russlandflagge über die Tür zum Klo gehängt. Der Kommentator redet über irgendeinen Igor und dass der belgische Torwart „geschmeidig“ ist. Wir bestellen Brownies, sie kommen frischgebacken und warm.

Halbzeitpause, Pipipause, englisch sprechende Touris füllen die letzten freien Plätze. Der Kommentator sagt, es ist „alles nur Ballgeschiebe, fast ohne jegliche Wirkung“. Kommt mir auch so vor. Fünfte Sorte Wodka: Khortytsa, organic. Schmeckt mittelmild, eher billig, langweilig.

Dann Tor für Belgien in der 88. Minute. Stöhnen im Raum. Abpfiff, Ende. Letzter, sechster Wodka: Green Mark, in der Karte als „mild und rund“ beschrieben. Schlichter, aber guter Geschmack, würdiger Abschluss. Inzwischen läuft russischer Hiphop zur stummgeschalteten Übertragung, und wir stellen uns vor, dass Olli Kahn russisch rappt. Die Mundbewegungen passen ganz gut.

Heimmannschaft: Russland

Gästeblock: Kreuzberger, Touris, egal, alle willkommen, Platz ist genug.

Stadionimbiss: Borschtsch, Bio-Pelmeni, Vareniki, Kuchen, zehn Sorten Wodka

Ersatzbank: paar Meter weiter links: Shishabar Eastern Bull 1453, ansonsten eine von fünftausend Kneipen drumherum

Rote Karte: Leute, die auf ruckelfreie Übertragung draußen bestehen.