Im Froschnebel

Der französische Philosoph Alain Badiou verteidigt in seinem neuen Buch die Radikalität des 20. Jahrhunderts – und nimmt dafür die Schreckensherrschaft eines Stalin oder Mao billigend in Kauf

Mit Badious politischer Philosophie könnte man selbst noch staatliche Gewaltexzesse begründen

VON MARCO STAHLHUT

Als um die Jahrtausendwende gleich eine Reihe von Büchern auf das zu Ende gehende 20. Jahrhundert zurückblickten, stammte das beeindruckendste vom britischen Historiker und Marxisten Eric Hobsbawm. Er brachte das Jahrhundert auf die glückliche Formel des „Zeitalters der Extreme“. Es war auch ein Zeitalter des Denkens in Extremen: politisch mit Kommunismus und Faschismus, künstlerisch mit dem Modernismus der Avantgarde, für das menschliche Bewusstsein mit Freuds Psychoanalyse. Es ist diese neue Radikalität des Denkens, die Alain Badiou in „Das Jahrhundert“ fest im Blick hat.

Badiou ist einer der wichtigsten lebenden linken Philosophen. Er leitet die Philosophie an der französischen Elitehochschule École Normale Supérieure. Und er ist langjähriger politischer Aktivist. Nach der Mitgliedschaft in einer maoistischen Organisation, die bis 1985 existierte, ist er heute führendes Mitglied von L’Organisation Politique, die sich für Sans-Papiers-Immigranten engagiert und an dem kommunistischen Projekt festhält.

In seinem Buch, das aus Vorlesungen entstand, unternimmt Badiou eine Rückschau, die herausarbeiten soll, wie sich das 20. Jahrhundert „selbst gedacht“ hat, was in dieser Zeit über diese Zeit gedacht wurde. Das impliziert natürlich bereits eine These: Im 20. Jahrhundert selbst wurde intensiv darüber nachgedacht, was die Zeit, in der man lebt, ausmacht. Und diese Beschäftigung mit der eigenen Charakterisierung hängt damit zusammen, dass das Jahrhundert sich vorzüglich als Neuanfang gedacht hat.

Für Badiou ist das Hauptcharakteristikum des 20. Jahrhunderts das, was er „Passion des Realen“ nennt. Das 19. Jahrhundert war von Utopien geprägt, von politischen und wissenschaftlichen Idealen, die erst in der Zukunft eingelöst werden sollten. Das 20. Jahrhundert wollte dagegen die direkte Erfahrung des Realen. Nicht die alltägliche Realität, sondern das Reale selbst. Die extreme Gewalt des 20. Jahrhunderts liegt nach Badiou – auch – darin begründet, die Masken der gesellschaftlichen Realität herunterzureißen, um zum Realen selbst vorzustoßen. Badiou will das Jahrhundert in seinen Fehlern und Exzessen verteidigen. Nötig werde diese Verteidigung, da diese Leidenschaft heute geleugnet werde, so, als habe das 20. Jahrhundert gar nicht wirklich stattgefunden. Als sei es nur ein monströser Fehlschlag gewesen, für den mal der Holocaust, mal der Gulag stehen sollen.

Den Begriff des Realen entleiht Badiou der Psychoanalyse Jacques Lacans. Das ist insofern problematisch, als der Begriff dort hinreichend unbestimmt bleibt. Wie bei vielen französischen Denkern scheint es einfacher, zu sagen, was mit ihm nicht gemeint ist. Keinesfalls meint „das Reale“ die Realität, sondern eher das pure, undifferenzierte Sein an sich, dasjenige an der Wirklichkeit, was aus den Registern des Symbolischen und Imaginären herausfällt. „Frog Fog“, „Froschnebel“, nennen nüchtern gestimmte Briten diesen Hang zur Unklarheit bei den französischen Poststrukturalisten. Auch Badiou richtet Theorie-Nebelwerfer auf die reale Geschichte.

Über den Stalinismus schreibt Badiou, es handele sich um eine „Singularität“ mit der „ihr eigenen Größe, auch wenn diese Größe, weil gefangen in ihrer Konzeption des Realen, eine enorme Gewalt als Kehrseite hatte“. Noch unkritischer diskutiert Badiou die chinesische Kulturrevolution, die mit bizarren Auswüchsen des Personenkults um Mao einherging. Und in der ein Klima entstand, in dem jeder jeden als Konterrevolutionär beschuldigen konnte und Lynchjustiz einer radikalisierten Jugend an der Tagesordnung war.

Woher speist sich Badious Gleichgültigkeit gegenüber machtbesessenen Diktatoren? Der Philosoph entledigt sich des Problems mit dem Hinweis, dass Machtspiele auch das Wesen der parlamentarischen Politik ausmachten. Nur ging Maos Machtspiel mit massenhaftem Leiden und Sterben der Bevölkerung einher. Wer das ernsthaft mit den Machtspielen in Demokratien vergleicht, muss alle politischen und moralischen Maßstäbe verloren haben. Tatsächlich hat Badiou in einem Interview mit Lacanian Ink explizit zum Kampf gegen die Demokratie aufgerufen, da der Kapitalismus ein abstraktes System struktureller Herrschaft sei, das man nicht direkt angreifen könne, sondern nur über seinen politischen Ausdruck. Das ist heute eine besonders abwegige Position: Der unter dem Zeichen des Kampfs gegen den Terror entstehende autoritäre Kapitalismus, der die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats aufweicht, ist eine viel zu bedrohliche Entwicklung, als dass man ihren Befürwortern mit einer Pauschalverurteilung von Parlamentarismus und Demokratie leichtes Spiel machen sollte.

Für die britische Traditionszeitschrift der Neuen Linken, die New Left Review, hat Badiou vor etwas mehr als einem Jahr über „The Adventure of French Philosophy“ geschrieben. Darin fasst er die Hauptinteressen der französischen Philosophen nach dem 2. Weltkrieg zusammen und verweist auch auf Gemeinsamkeiten zwischen den herkömmlich als gegensätzlich betrachteten Positionen von Sartre und den Denkern des Poststrukturalismus: Deleuze, Derrida, Foucault. Zugleich macht Badiou deutlich, dass er sich als letzten Vertreter dieses philosophischen Vermächtnis versteht. Sein Anliegen besteht darin, die existenzialischen und marxistischen Strömungen der französischen Nachkriegsphilosophie mit den nietzscheanisch-poststrukturalistischen Denkansätzen zu fusionieren.

Das wird wiederum durch Badious Diskussion der Kulturrevolution verdeutlicht. Badiou bestreitet weder die extreme Gewaltanwendung der Roten Garden noch die politische Verfolgung insbesondere von Intellektuellen, auch nicht die Hunderttausende von Toten. Sondern er rechtfertigt sie: Schließlich seien alle radikalen Versuche, die herrschende Ordnung umzustürzen, schon immer von Gewalt begleitet worden. Die eigentliche Pointe seiner Verteidigung besteht jedoch nicht in dem bekannten Argument der politischen Notwendigkeit von Gewalt gegen Feinde der Revolution. Vielmehr ist diese Pointe, und das macht sie zumindest originell, eine philosophische: „Das Thema der totalen Emanzipation … ist immer jenseits von Gut und Böse, weil unter den Voraussetzungen der Aktion das einzig bekannte Gute das ist, das die etablierte Ordnung zum kostbaren Namen ihres Fortbestehens macht. Die äußerste Gewalt ist demnach umkehrbar in den äußersten Enthusiasmus, denn es handelt sich in der Tat um eine Umwertung aller Werte.“ Badiou setzt also Nietzsches „Umwertung aller Werte“ mit kommunistischer Praxis gleich – was eine sehr eigenwillige Interpretation ist. Denn der sozialistischen und kommunistischen Bewegung ging es historisch nicht um eine Umwertung der bestehenden Werte, schon gar nicht um eine nietzscheanische Interpretation, die Werte wie Mitgefühl und Gerechtigkeit als dem Ressentiment der Schwachen geschuldet ausweist. Vielmehr ging es ihr darum, dass die Einlösung dieser Werte nur politisch, in einer anderen Gesellschaft möglich sei.

Einzelne Thesen Badious sind auch in „Das Jahrhundert“ sehr anregend, sicher leistet auch seine „Organisation Politique“ teilweise ehrenwerte Arbeit. Mit Badious politischer Philosophie aber, und das ist an dieser Stelle das Wichtigere, könnte man wirklich alles begründen, von staatlichen Gewaltexzessen bis zu individualistischem Terror. Am Ende des Buches steht ein Rundumschlag gegen die weichliche Gegenwart, gegen Menschenrechte und Humanismus. Gegen sie postuliert Badiou einen „In-Humanismus“, der an den kommunistischen „Neuen Menschen“ anschließt, an Nietzsches „Übermensch“, an Sartres Begriff der Existenz, an Foucaults Absage an den klassischen Humanismus. Gewiss: Auch Adorno schreibt, die Liebe zu den Menschen, wie sie sind, entspringe dem Hass gegen den richtigen Menschen. Bei der Badiou-Lektüre drängt sich indes der Eindruck auf, der Satz lasse sich auch umdrehen. Bei ihm scheint die Liebe zu den Menschen, wie sie sein könnten, vor allem der Hass auf die zu sein, die es gibt.

Alain Badiou: Das Jahrhundert“. Diaphanes, 238 Seiten, 24,90 Euro