Das war das Jahr, das war

Fünf persönliche Rückblicke auf die Leibesübungen 2006 unter Berücksichtigung eines Großereignisses

Plötzlich fitschte der Deutsche vorbei

Zwanzig Jahre liegt es zurück, mein prägendstes Sporterlebnis. Beim Schulwettbewerb „Jugend trainiert für Olympia“ startete ich im großen Berliner Olympiastadion für meine Schule im 800-Meter-Lauf, den ich allerdings bereits nach 100 Metern mit einem Sturz im Getümmel beendete. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren die anderen schon eine Achtelrunde weiter. Ich gab entschlossen auf. Denen jetzt noch hinterherlaufen, das war mir zu doof. Kämpfen? Nein danke!

Umso beeindruckter war ich ein paar Jahre später von Jan Fitschen. Schließlich ist er bei seinem EM-Sieg über 10.000 Meter die ganze Zeit hinterhergelaufen. Und hat nicht aufgesteckt. Ehrlich gesagt plätscherte für mich das Rennen 9.900 Meter nur so dahin. Langstrecke ist ja nur ein anderes Wort für Langeweile, und diesen Deutschen kannte ich eh nicht. Doch als der Reporter plötzlich in Herbertzimmermanier brüllte: „Und jetzt geht er auf der Zielgeraden vorbei, Jan Fitschen aus Wattenscheid, den im Prinzip keiner kennt, Jan Fitschen, das gibt es nicht!“ –, schaute ich genauer hin und sah das fulminante Finale des 29-Jährigen, der der Konkurrenz einfach davonfitschte. Das sah super aus, dieser Schlussspurt. Und kurz danach stellte sich heraus, dass Jan Fitschen sowohl schlau (Physikstudent) als auch sympathisch ist. „Ich bin nur mittelmäßig talentiert“, gab er in einem Interview zu, und so ein Eingeständnis weckt doch in jedem, der einmal im Monat joggt, die Hoffnung, man könne lustlose Rennabbrüche aus der Pubertät im hohen Alter wieder wettmachen.

Fitschen – der zum Glück bestreitet, der neue Dieter Baumann zu sein – hat sich nicht nur in mein Herz gekämpft, sondern auch die deutsche Leichtathletik rehabilitiert. Die wurde nämlich vor der EM auf dem Tiefpunkt verortet. Doch dieser strahlende Sieger verlieh ihr plötzlich etwas Erhabenes. „Über eine Höhenkette auf den Gipfel“ titelte die FAZ zwar umständlich, aber folgerichtig. Meine leichtathletische Karriere hingegen endete mit einer eher niederschmetternden Überschrift: „Unglücklicher Sturz vereitelte Bundessieg“, stand in der Regionalzeitung. Ach, bekäme ich doch noch einmal die Chance, ein Rennen so zu beenden wie Jan Fitschen!

JUTTA HEESS

Kraul in die Gegenwart

Manchmal, in ganz besonderen Augenblicken, kriecht einem die Nachricht bis in die entlegensten Winkel der Welt nach. Es war im Sommer, ein paar Tage nach der Weltmeisterschaft. Es war in einem kleinen Dorf in der Nähe von Graz mit schlechter Funkverbindung, und den einzigen Kontakt zur Welt stellte der Fernseher her. Damals also, in diesen brüllendheißen Tagen, schien es, als erlaube sich der bekanntlich ironiefreie Teletext einen ziemlich guten Scherz: „Steffen mit Weltrekord über 100 Meter Freistil.“ Amüsant, ganz sicher, doch Nachforschungen ergaben: Es war nichts als die reine Wahrheit.

Die Fachwelt, in Budapest bei den Europameisterschaften reichlich vertreten, fragte bloß: Britta who? Britta Steffen: blond, groß, blauäugig, sensibel, so heißt es, manchmal zu feinfühlig für den Leistungssport und bisher nicht gerade im Verdacht stehend, die Rekorde von Frauen tilgen zu können, die einen Rücken vom Format einer Kristin Otto oder Inge de Bruijn besitzen.

Der Weltrekord über die Prestigestrecke war also wieder in Deutschland. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten. Früher einmal, als Deutschland noch geteilt war, hatte der Rekord im Osten seine Heimstatt gefunden. In Erbpacht war er den DDR-Schwimmerinnen zugefallen. Später wusste man dann ganz genau, wie solche Rekorde gemacht wurden, und weil in Deutschland heute ja alles sauber ist, war allen Experten klar, dass die Bestmarke nie wieder zurückkehren würde.

So kann man sich täuschen. Alle, die Steffen bei Regen das Wasser umpflügen sahen, glaubten an eine Sinnestäuschung. Schon möglich, dass jemand so schnell schwimmt. Aber eine Deutsche? Hatte man vergessen, dass sie beim Tietze-Cup, einer eher familiären Veranstaltung, einmal die weitaus bessere Frühform hatte als Franziska van Almsick? Oder dass ihre Technik über die Maßen gut ist? Aber wen interessiert in Augenblicken, in denen die Staatsanwaltschaft zur Begleiterin des Hochleistungssport wird, die Beteuerung eines Trainers, der sagt: „Alles sauber.“ Britta Steffens Weltrekord verdeutlichte vor allem eines: Sport und Misstrauen haben sich zu einem neuen Begriffspaar gefunden. Unverrückbar. Wie zwei Seiten einer Goldmedaille. STEFAN OSTERHAUS

Der Kaiser, ein Leichtgewicht!

Der Kaiser ist kleiner als ich. Er ist auch nicht besonders schwer. Es ist ein kleiner Kaiser. Ich weiß das. Ich hatte ihn im Arm. Es war während der Weltmeisterschaft, während seiner Weltmeisterschaft. Es war vor einer Pressekonferenz. Der Kaiser wollte Bilanz ziehen nach der Vorrunde. Er hat denkwürdige Worte gesprochen an diesem Tag. Über die Fanmeilen zum Beispiel: „So hat Gott sich die Welt vorgestellt.“

Er war per Helikopter unterwegs zu jener Zeit – von Stadion zu Stadion, hat fast alle Fußballspiele gesehen. Er hat gesagt, dass er „insgesamt recht gute Spiele“ gesehen habe. Ein Großteil der versammelten Pressevertreter nickte. Sie schienen richtig zu finden, was der Kaiser gerade gesagt hat. Weil es der Kaiser war, der es gesagt hat?

Dann hat er vom Abschied geredet, von der Zeit nach der WM, seiner WM. „Wenn die Weltmeisterschaft am 10. Juli Vergangenheit ist, sollten wir nicht zurückblicken. Wir leben in der Gegenwart. Der Weltcup ist dann schon unterwegs Richtung Mond und einen Monat später wird er unser Sonnensystem verlassen haben. So ist das.“ Es war ein wahrhaft kaiserlicher Vormittag.

Ich war spät dran an diesem Tag. Irgendwo ganz tief drin im Berliner Olympiastadion fand die Pressekonferenz statt. Im Laufschritt stürzte ich auf die Eingangstür zu und riss sie auf. Im selben Augenblick betrat der Kaiser durch eine andere Tür den Raum. Die beiden Türen standen im rechten Winkel zueinander und waren nicht weiter als einen Meter voneinander entfernt. Bremsen konnte ich nicht mehr – ich war zu schnell unterwegs. So kam es, dass ich plötzlich den Kaiser im Arm hatte. Ich hob ihn an, trug ihn in meinem Schwung etwa einen halben Meter mit mir und setzte ihn ab, nachdem ich endlich zum Stehen gekommen war. „Und, alles klar?“, habe ich ihn dann gefragt. Eine passendere Frage wollte mir nicht einfallen. „Passt scho“, hat Franz Beckenbauer geantwortet.

Er blickte zu mir auf und lächelte. Der kleine Kaiser löste sich von mir. Fotografen, keiner von ihnen kleiner als ich, gingen in die Knie, um den Kaiser von unten aufnehmen zu können. Jetzt wusste ich, warum ich ihn mir immer viel größer vorgestellt habe.

ANDREAS RÜTTENAUER

Treppenwitz der Geschichte

Wie allseits bekannt ist, hat die Weltmeisterschaft zwei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, die Wirtschaft wie verrückt angekurbelt und aus dem Land der Miesepeter eine Nation von Netten gemacht. Alle wollten Teil dieser WM sein. Alle? Nein, in einem Funktionsbau am Berliner Lützowplatz saßen ein paar Unverbesserliche. Die hörten nicht auf, zu mosern und zu meckern.

Die fanden doch tatsächlich Stolpersteine in den WM-Stadien. Oder andere Baumängel. Die Stiftung Warentest deckte sie kompromisslos auf. Das war nichts anderes als Verrat am Vaterland, Dissidenz auf hohem Niveau. Es dauerte nicht lange, da wurden die nörgelnden Stifter vor den Bundestag gebeten und von der Staatsanwaltschaft, das heißt dem Sportausschuss vernommen. Aber man ließ die Angeklagten kaum zu Wort kommen. Denn die SPD schimpfte lauthals. Die CDU tobte. Die FDP verhörte. Die Grünen sondierten. Und die PDS war gar nicht da. Zwei Abgesandte der Stiftung Warentest legten die Ergebnisse so sachlich wie möglich dar – sofern das in einer Atmosphäre der Erregung möglich war.

Nach dem Tribunal erklärten die WM-Politiker, dass die WM toll werde. Bei den baulichen Mängeln handele es sich lediglich um Marginalien. Hier und da besserte man halb heimlich nach. Doch als dann das große Fußballfest begann, dachte kein Mensch mehr an die Verbraucherschützer vom Lützowplatz. Auch mir ging das so – bis zum Halbfinale im Dortmunder Westfalenstadion, Deutschland gegen Italien.

Eine Stunde vorm Anpfiff saß ich schon im Stadion, an einem Treppenaufgang mit verschachtelt angelegten Stufen. Leute gingen die Betontreppe hoch – und stolperten. Einmal, zweimal, dreimal. Einer schlug sich den Ellenbogen blutig, ein anderer schürfte sich die Hand auf. Irgendwann hörte ich auf zu zählen. Hätten die WM-Gewaltigen nur auf die Stiftung Warentest gehört, sagte ich mir, dann wären brave Fans unversehrt geblieben. Das interessierte nach dem Spiel aber keinen mehr, denn die Deutschen waren in die italienische Falle getappt und raus aus dem Rennen.

Wenn man es recht bedenkt, kann daran eigentlich nur eine Partei Schuld haben: die Warentester vom Lützowplatz.

MARKUS VÖLKER

Bauwerke des Hässlichen

Es geschah, als ein Land die Liebe zu seiner Mannschaft wieder fand. Als ein heißer Sommer seinen heißesten Höhepunkt erlebte. Als die Last der Geschichte von Auschwitz bis Gijón endlich vergessen schien. Kurz: Als Oliver Neuville in der Nachspielzeit gegen Polen die Hereingabe von David Odonkor über die Linie drückte. Ein Schweizer italienischer Abstammung mit deutschem Pass verwertet die Vorlage eines Deutschem mit ghanaischem Vater zum ekstatisch gefeierten Erfolg. Da, in diesem Moment, gab auch ich endlich meinen Jahrzehnte tapfer gehegten antinationalistischen Reflex auf.

Keine halbe Stunde später allerdings war alles wieder vorbei. Denn das Leben findet nun einmal leider nicht auf einem Fußballplatz statt, nicht in einem Dortmunder Stadion und erst recht nicht im Fernsehen, sondern zum Beispiel auf dem Bahnsteig eines Berliner S-Bahnhofs. Dort sammelten sich zu später Stunde die Reste einer Menge, die auf der Fanmeile im Berliner Tiergarten den Sieg bejubelt hatte. Mitten unter ihnen zwei Jungs und ein Mädchen, sechzehn Jahre alt, vielleicht siebzehn, gehüllt in Rot und Weiß, und nun, an diesem Abend, an dem die deutsche Nation endlich wieder glücklich zu sich gefunden hatte, das Ziel lautstarker Schmähungen.

„Ihr könnt nach Hause fahren“, intonierten die alkoholisierten Jungmänner, und es war nicht nett gemeint, auch nicht ironisch. Alle trugen ihr Haar sehr kurz, manche von ihnen auch Lonsdale-Shirts, und einer reckte schließlich den rechten Arm zum deutschen Gruß. Hätte die Staatsmacht mit ihrer demonstrativen Anwesenheit die Hormone nicht unter Kontrolle gehalten, das neue deutsche Selbstbewusstsein hätte sich wohl in Handgreiflichkeiten an einigen polnischen Hänflingen seinen Ausdruck verschafft. In diesem Augenblick war der oft und gern beschworene „entspannte Nationalismus“ bloß mehr Makulatur.

Zwei Wochen später, nach dem Elfmetererfolg gegen Argentinien, reckte der hässliche Deutsche noch dreister sein Haupt. „Wir bauen eine U-Bahn von Argentinien nach Auschwitz“, gröhlte es durch den Waggon. Schattenseiten eines Sommermärchens. Ich war dabei, ich konnte nicht wegsehen. THOMAS WINKLER