Frau Schwab geht unter Leute
: Silvester zum Kartenlesen bei Freunden

Jan Polak vom ersten Ef-ze-ka und Tommy Bechmann vom Vau-ef-el Bochum kommen an diesem Silvesterabend nicht zum Einsatz. Denn kaum in der Wohnung unserer Gastgeber, zeigt mir deren fünfjähriger Sohn sein Fußball-Bundesliga-Aufklebe-Buch. Sein Vater wiederum zaubert aus der Hosentasche eine Wundertüte mit Bildern. Die Plätze für Bechmann, Polak und drei Weiteren sind von Doppelgängern bereits besetzt. Von da an liegen die Bilder unbeachtet neben den Tellern des Fünf-Gänge-Menüs, das nach und nach aufgetischt wird.

Japanische Nudelsuppe gibt es zuerst, dann Pasta und geeisten Kaiserschmarren. Der Kleine gibt die Essensfolge vor, denn er muss ins Bett und verlangt vorab nach Eis. Um den Genussfluss danach wieder aufzunehmen, wird eine Kürbistorte kredenzt, deren Rezept einer Freundin aus Offenburg zu verdanken ist. Diese spielt auch bei der Orangenpolenta mit Lebkuchensahne kurz vor Mitternacht eine Rolle. Besser lässt sich ein kompliziertes Jahr nicht beenden.

Denn am Tisch sitzen Menschen, die zum prekarisierten Mittelstand gehören. Die Gastgeberin, Architektin von Beruf, hat Arbeit, aber der Lohn für ein Jahr wurde ihr noch nicht bezahlt. Sie wird von ihrem Freund durchgefüttert. Der verdingt sich in einer Softwarefirma. Seine Arbeit gefällt ihm nicht. Er sucht ’ne neue. Der Vertrag meiner Gefährtin wiederum läuft um Mitternacht aus. Zukunft ungewiss. Komm ich noch dazu. Nun ja, von der taz. So gesehen hat uns die Jahresendzeitstimmung aufs falsche Gesprächsgleis geführt.

Rettung versprechen die ausrangierten fünf Fußballbildchen – da ist es schon nach Mitternacht. „Wir orakeln mit ihnen“, schlägt die Gastgeberin vor. Schließlich bräuchten wir Mut für Neues. Meine Gefährtin fordert als Erste ihr Schicksal heraus: „Werde ich dieses Jahr ein Tor schießen?“ fragt sie und zieht das linke obere Viertel eines vierteiligen Mannschaftsbildes. „Fraport“ steht auf den Hemden der finster blickenden Kerle. „Du bist ein Teamplayer“, gibt der Kartenleser zu bedenken. „Ob du das Tor schießt, ist unklar. Die rote Trikotfarbe allerdings drängt nach vorne.“ Die Kraft sei da. Gemeinsam schafft ihr’s, so das Fazit.

Die Gastgeberin wiederum befragt als Nächste ihr Schicksal. „Soll ich die Wand im Zimmer grün streichen?“ Als Karte zieht sie den eher unbekannten Rick Hoogendorp. Er hat, ganz passend, ein grün-weißes Hemd an. „Grün steht für Aufbruch, für Neuanfang“, interpretiert meine Gefährtin. „Weiß steht für die innere Leere“, ergänze ich. Sie müsse eine Balance finden zwischen den beiden. Ja, sie solle die Wand streichen. „Am besten hellgrün.“

Die Frage des Gastgebers ist konkreter: „Werde ich am 1. Juli eine neue Arbeit haben?“ Er zieht das blau-weiße Emblem des VfL Bochum. „V-f-L – von feiner Leistung“, sagt das Orakel, dazu die Ausgewogenheit zwischen dem Blau der Vernunft und dem Weiß des Nichts. „Keine überstürzten Entscheidungen“, meinen wir.

Bleibe ich. „Werde ich im neuen Jahr diplomatischer sein?“ Wie der Proband zuvor ziehe ich das Wappen der Bochumer. „Es ist eine Karte ohne Menschen“, so meine Freundin. Was heißt das? „Sagen wir so: Theoretisch wirst du das Problem angehen. Ob es in der Praxis klappt, steht dahin.“ Da hält sich auch die Gastgeberin nicht zurück: „Wohl kaum“, meint sie, „schließlich steigt der Verein immer wieder auf, um dann abzusteigen.“ Waltraud Schwab