Ein Meilenstein hin zum Rückzug

US-Präsident George W. Bush geht die Zeit aus, eine neue Irakstrategie vorzulegen. Selbst im Weißen Haus ist offenbar nicht mehr die Rede davon, die Truppen aufzustocken

Aus Washington ADRIENNE WOLTERSDORF

„3.000 Tote im Irak, zahllose Tränen zu Hause“, mit dieser Schlagzeile begrüßte am Neujahrsmorgen die US-amerikanische Tageszeitung New York Times ihre Leser. Die Nachricht vom Tod des 22 Jahre alten Soldaten Dustin R. Donica aus Texas (siehe Kasten) und damit das Erreichen der Dreitausendermarke kam an einem Wochenende, an dem US-Präsident George W. Bush sich bemühte, die erfolglose US-Militärstrategie im Irak neu auszurichten. Die Zahl der Anschläge auf die US-Truppen allein sind ein Menetekel für die Kriegsführung. Von Mitte August bis Mitte November stieg laut einem Bericht des Pentagon die Anzahl der wöchentlichen Attacken von irakischer Seite um 22 Prozent. Am schlimmsten sei Gewalt in Bagdad und in der westlichen Provinz al-Anbar.

„Der Präsident wird sicherstellen, dass die Opfer der Soldaten nicht umsonst sind, sagte der Pressesprecher des Weißen Hauses, Scott Stanzel, US-Medien. „Wir werden gegen gewalttätige Dschihadisten und für Frieden und Sicherheit in der zivilisierten Welt noch jahrelang vorgehen. Die tapferen Männer und Frauen des US-Militärs kämpfen gegen Extremisten, um sie davon abzuhalten, unseren Boden ein weiteres Mal anzugreifen“, erklärte Stanzel. „Im neuen Jahr bleiben wir offensiv gegenüber den Feinden der Freiheit, wir sorgen weiterhin für die Sicherheit unseres Landes, und wir kämpfen weiter für einen freien und vereinten Irak“, hieß es in dem Statement, dass Bush an seinem Urlaubsort, seiner Ranch in Crawford, Texas, am Sonntag machte.

Der demokratische Senator Edward Kennedy nannte die neue Rekordzahl einen „tragischen Meilenstein“ und sagte, die Regierung sei zu einer neuen Irakpolitik verpflichtet, „die den Opfern der Soldaten und ihrem Heroismus würdig ist und sie sicher nach Hause bringt“.

Wegen der wachsenden Kritik der US-Bevölkerung am Kriegsverlauf und der anhaltenden Gewalt im Irak steht Bush unter Druck, eine neue Strategie vorzulegen. Der Präsident hat angekündigt, seinen neuen Irakplan erst in den kommenden Tagen bekannt zu geben. Am vorigen Freitag ließ er die Öffentlichkeit schon einmal wissen, dass er plane, die US-Truppen im Irak um 20.000 bis 30.000 Soldaten aufzustocken. Die von der überparteilichen Kommission unter Exaußenminister James Baker vorgelegte Empfehlung scheint Bush vorerst ignorieren zu wollen.

Der Großteil der zusätzlichen Truppen, so Bush, solle für die Bekämpfung der Gewalt in und um Bagdad eingesetzt werden. Die Aufstockung solle nicht durch neue Soldaten erreicht werden, sondern lediglich durch einen späteren Abzug von zwei in der westirakischen Provinz al-Anbar eingesetzten Marineinfanterie-Regimentern. Derzeit sind im Irak 134.000 US-Soldaten im Einsatz.

Einige Militärs nannten Bushs Vorschlag einen Ansatz, der eher politischen als militärischen Zielen diene. Das Verteidigungsministerium fordert als Schwerpunkt einer neuen Irakpolitik eine verstärkte Ausbildung irakischer Soldaten. Es würden weder eine neue Strategie noch neue Taktiken benötigt, sagten am Freitag Mitarbeiter des Ministeriums in Washington. „Wir wollen eine größere Zahl von Ausbildern.“ Hier müsse die bisherige Strategie angepasst werden. Die Empfehlung des Pentagons werde daher weiter die bisherigen Elemente enthalten, jedoch eine andere Gewichtung vorschlagen.

Die Idee der Militärs ist es, die irakische Armee in die Lage zu versetzen, an die Stelle der britischen und US-Truppen zu treten und selbst für die Sicherheit im Land sorgen zu können. Auch die Kommandeure im Irak baten den neuen Verteidigungsminister Robert Gates bei seinem Besuch in der vergangenen Woche um eine verstärkte Ausbildung der irakischen Truppen. Als Beispiel verwiesen sie auf ein irakisches Bataillon, in dem 400 US-Soldaten integriert seien. Dadurch hätten sich taktisches Verhalten und das Selbstvertrauen der Iraker deutlich verbessert.

Unter Demokraten löste Bushs Vorschlag Empörung aus. Der künftige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Senat, Joseph Biden, warf dem Präsidenten vor, die US-Armee zu überfordern. „Wir haben schon den Irak auseinandergenommen. Jetzt sind wir drauf und dran, auch noch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten zu zerstören“, zürnte der Senator. Carl Levin, der künftig den Streitkräfteausschuss im Senat leiten wird, warnte davor, von Truppenaufstockung zu reden. Das sei „genau die falsche Botschaft“ an die Iraker.

Bundeskanzlerin Angela Merkel reist am Donnerstag, an dem Tag, an dem auch der neue demokratische Kongress zum ersten Mal zusammentritt, zu einem eintägigen Arbeitsbesuch nach Washington. Mit Bush will sie über die Lage im Irak, die Frage der Truppenstationierung in Afghanistan und die Haltung des Westens zur iranischen Atomfrage sprechen.