der kracher-nachbar von REINHARD UMBACH
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Unser Nachbar ist eine echte Lichtgestalt. Seit anderthalb Jahrzehnten wohnen wir nun vis-à-vis, und kein Silvester hat er uns im Stich gelassen, der unbekannte Herr von gegenüber. 364 Tage sieht man ihn nämlich nicht, erst am allerletzten Tag des Jahres zeigt er sich und böllert, was das Zeug hält. Wenn rundherum die Stadt schon wieder friedlich liegt, holt er noch immer Krachwerk raus. Es dauert stets bis weit nach drei Uhr morgens. Seit Stunden schon hocken unsere Katzen unter irgendeinem Sofa, während wir uns die Nasen am Fenster kalt drücken, um die Raketen bis zum Zerglitzern zu verfolgen. Die besten Dinger hebt er nämlich immer bis zum Ende auf.

Welch glückliche Fügung, dass es den Nachbarn gibt! Bis tief in die Ausläufer der Pubertät war ich selbst aktiver Zündler. Bernd, mein Cousin, und ich mussten die Kracher jedes Mal extra aus dem Nachbarort beschaffen. Während des vier Kilometer langen Heimwegs hatten wir das Zeug zur Hälfte jeweils weggeböllert. Der Rest ging unter einer neuen echointensiven Autobahnbrücke drauf. Da standen sogar Anliegermülltonnen bereit, damals noch metallen. Oh, wie denen dann der Deckel in den Tonnennacken klappte, wenn es innen rummste! Mit der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer war leider dieser Spaß vorbei.

Erst der Nachbar musste kommen, um mich wieder zu erleuchten. Er zündelt aus allen Rohren und Mauerritzen, wie aus den Schießscharten von Kasematten. Es ist alles präpariert und läuft am Schnürchen. Nach jedem Zündvorgang verschwindet er im Hauseingang und verfolgt das Geschehen aus der Distanz des Meisters. Nie würde ich es wagen, ihn anzusprechen. Zu geheimnisvoll ist das Band der Sympathie, das sich seit all den Jahren um uns geschlungen hat. Und das der Scham. Denn nur zu offensichtlich ist, dass er den ganzen Zauber nur wegen uns, seinen Zuschauern, entfaltet.

Wir gehen inzwischen nirgends mehr hin. Wir müssen ja zu Hause bleiben. Wir haben schließlich unseren Nachbarn. Und der hat niemanden außer uns. Wenn mich Freunde fragen, was ich Silvester mache, rede ich mich raus: „Silvester? Die Katzen brauchen uns.“ Dabei braucht uns der Nachbar. Allerdings weiß ich nicht einmal, ob er überhaupt ein echter Nachbar ist. Wahrscheinlich ist er ein Agent des Nobelpreiskomitees, der seinen Anteil des Schwarzpulvererbes durchbringt.

An diesem Jahreswechsel wurde der Kracher-Nachbar dann auch zum ersten Mal besonders belohnt. Denn aus einem anderen Nachbarhaus erhob sich plötzlich Beifall, als sich lange nach ein Uhr ein dreifacher Raketenrittberger in die laue, windige Silvesternachtluft schraubte und verglühte.

Die Ovationen kamen aus dem Fenster über der Privatkapelle, in der im Wintersemester 1803/04 der Bayernkönig Ludwig I. wohnte. Der ließ später Krone Krone sein, dankte wegen seiner großen Liebe Lola Montez ab und lief ihr bis Nizza nach. Würde er es noch erleben, was heutzutage unser Nachbar veranstaltet, er wär wohl geblieben. Genau wie ich jedes Silvester bleibe, wo ich bin. Einen solchen Nachbarn darf man doch wegen schlapper 364 lichtloser Tage nicht verlassen.