: Coco Chanels verlorener Krieg
VON ADRIENNE WOLTERSDORF (NEW YORK) und GEORG BLUME (PEKING)
Canal Street, das ist die Lebensader Chinatowns. Sie durchquert das südliche Manhattan von Ost nach West. Während sie in Richtung East River nach Fisch und Schmorrippchen duftet, riecht es in Richtung Westen, zum Hudson River hin, nach billigem Parfüm. Gefälschte Markenhandtaschen, Uhren, Parfüms und Billigschuhe verdrängen hier den getrockneten Seetang und die Tofukisten. In der Great Wall City, einem dreistöckigen Labyrinth aus Geschäften und Geschäftchen, raunt es Passanten „Gucci, Prada, Louis Vuitton“ entgegen. Im Minutenrhythmus geht die gefälschte Ware über die Ladentheken.
Im vergangenen Frühjahr lief der französische Luxushersteller Louis Vuitton in der Canal Street Sturm. Mit gigantischen Plakaten protestierte das Edellabel gegen die falschen LV-Taschen, die hier zu Preisen zwischen 50 und 100 Dollar verhökert werden. Hilfe von der New Yorker Polizei können die Markenhersteller selten erwarten. In ganz New York gibt es nur fünf Polizeibeamte, die auf die Ermittlung von Intellectual-Property-Verstößen, kurz IP-Crimes, spezialisiert sind. Designfirmen kämpfen daher längst mit privaten Ermittlern und Rechtsanwälten für das, was sie ihr geistiges Eigentum nennen.
Ihr Kampf ist global. Selbst in China werden heute auf dem berühmtesten aller chinesischen Piratenmärkte, dem Pekinger Seidenmarkt, gefälschte Armani-Anzüge für 50 Euro nur noch unter dem Ladentisch gehandelt. Bis vor kurzem liefen solche Geschäfte in aller Offenheit. Doch auch hier wurde allen voran Louis Vuitton mit einer Informationskampagne bei der Kommunistischen Partei und Pekinger Lokalpolitikern aktiv – nicht ohne Erfolg.
Bedrohte deutsche Autobauer?
Tatsächlich herrscht in den betroffenen Branchen eine Kriegsstimmung, die langsam auch die Politik erfasst. Noch wagt die chinesische Regierung die Probleme nicht öffentlich anzusprechen. Doch in den USA und der EU sammeln sich die Anhänger des Protektionismus. Über sieben Prozent des Welthandels seien in der Hand von Produktpiraten. China sei das Zentrum der modernen Wirtschaftverbrecher, schimpfen westliche Lobbyisten. Auch die deutsche Wirtschaft fühlt sich bedroht und klagt über in China kopierte Autoteile wie Windschutzscheiben und Bremsen. Die chinesische Regierung weist die pauschalen Beschuldigungen zurück, was in den USA und in Europa der Debatte erst recht Auftrieb verleiht.
Typisch ist die Haltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. China sei ein Land, das sich an keine Regel halte, sagt Merkel und meint damit den fehlenden Schutz geistigen Eigentums in China. Im letzten Jahr stellte sie das Thema während ihres ersten Kanzlerbesuchs in Peking ganz oben auf ihre Prioritätenliste. Und das soll sich im neuen Jahr nicht ändern. Berlin will den Schutz geistigen Eigentums in China zum Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft der EU und der G 8 machen. Als gebe es für die deutsche Wirtschaft in China kein wichtigeres Anliegen, als Produktpiraten das Handwerk zu legen.
Wie hoffnungslos dieses Vorhaben ist, zeigt sich in New York. Nur wenige Kilometer von der Canal Street entfernt, jenseits des grauen Hudson Rivers, liegt der Hafen von Newark. Er ist der größte Containerterminal der US-Ostküste und versorgt einen der kaufkräftigsten Märkte der Welt. Hier legten im vergangenen Jahr 5.322 vollbeladene Containerschiffe an, ein Viertel aus der Volksrepublik China kommend; 2,8 Millionen Container wurden an den Terminals gelöscht und in die gesamten USA verfrachtet. Knapp 8.000 Container täglich.
Christine Hogue ist Leiterin des Büros für Handelsanalyse. Mit Hilfe eines Overheadprojektors erklärt sie die Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit der ihre Computerprogramme spekulieren, ob Container illegale Kopieware enthalten – oder nicht. Die Rechnung ist so verständlich wie das Durcheinander der chinesischen Dialekte auf der Canal Street. Hogue hat aber eine klare Message, und die lautet: Produktpiraterie ist „ein signifikant wachsendes, globales Problem“ – und China ist das Quellland für 81 Prozent der Kopieware.
„Wir suchen nicht die kleinen Fische. Deshalb greifen wir auch nicht gleich zu, sondern verfolgen die Ware, wenn sie von den Adressaten abgeholt wird. Meine Ermittler schlagen erst zu, wenn sie sicher sind, am Lager oder Auslieferungsort angekommen zu sein.“ Beobachten dürfen Besucher das neuartige Containerscreening nicht. Die Testprogramme sind auch ein Teil der Antiterrorstrategie und daher geheim. Nur so viel wird verraten: dass ihre Mitarbeiter 2006 doppelt so viele Warenkopien wie noch 2005 erwischten. Hogue spricht zwar nicht „vom Tropfen auf den heißen Stein“, doch sie nickt, wenn sie danach gefragt wird. Vor allem Schuhe wurden konfisziert, so viele Paare, dass sie insgesamt 63 Millionen Dollar Großhandelswert hatten.
Vieles in Christine Hogues Arbeitswelt ist Theorie. Denn in Wahrheit galoppiert das Einströmen gefälschter Markenware den US-Behörden davon, vom unkontrollierbaren Handel im Internet ganz zu schweigen. Um 1.700 Prozent soll das Gesamtvolumen seit dem Jahr 1993 gewachsen sein. Mittlerweile seien alle Branchen betroffen, von Lebensmitteln bis hin zu Flugzeugteilen. Hinzu komme, bestätigen Hogues Spezialisten, dass der Piratenhandel eng verflochten ist mit Geldwäsche, Prostitution und Drogenhandel. Beteiligt, so viel wissen die Fahnder, sind vom Straßenverkäufer aufwärts alle: Hersteller, Händler, Transporteure, Beamte und Firmen nahezu aller Länder und Nationalitäten. Bei der Handelskammer in Washington ist der Unmut deutlich spürbar. „Es ist doch lächerlich, dass die Regierung angesichts dieser Zahlen nur eine Abteilung mit 13 Beamten für den Kampf gegen Produktpiraterie betreibt. ‚Eldorado Task Force‘ heißt sie auch noch“, schnauft der Wirtschaftslobbyist und Koordinator für IP-Rechte, Brad Huther.
Auch Ye Guohong in Schanghai glaubt, dass der herkömmliche Kampf gegen die Piraten sinnlos sei. Das ist verwunderlich. Denn Ye ist der China-Chef des größten deutschen Autozulieferbetriebs, ZF in Friedrichshafen. Ye managt ein Dutzend chinesischer Fabriken in exakt der Branche, in der deutsche Unternehmen bislang am meisten unter chinesischer Produktpiraterie leiden. Bremsen von Bosch und Stoßdämpfer von ZF – das waren bislang, wie Handtaschen von LV, die Renner chinesischer Piraten. Doch Ye regt sich darüber nicht mehr auf. „Die Kritik aus Deutschland ist sehr pauschal und erzeugt nur eine sentimentale Stimmung, die wenig hilft“, rügt er.
Ye spricht fließend Deutsch, er ist ein hundertprozentiger Diener seines Unternehmens. Er verbringt den Tag nicht in seinem Chefbüro im 30. Stock des Center Towers in der Schanghaier Innenstadt, sondern draußen im Schanghaier Industriegebiet auf dem Gelände der ZF-Sachs-Fabrik für Stoßdämpfer. Es ist sieben Uhr abends. Er ist der Letzte, der im Bürotrakt der Fabrik noch arbeitet. Er sagt, es gebe in China hunderte von Stoßdämpferherstellern, darunter einen Deutschen: ZF. Er geht zum Fenster, zeigt auf eine Fabrikhalle. Dort lasse ZF Stoßdämpfer für Chinas U-Bahnen, Lokomotiven, Lastwagen und Busse produzieren. Er zeigt auf eine grüne Wiese. Dort werde bald mit den Bauarbeiten für die nächste ZF-Fabrik begonnen. „Wer die Kritik an den Piraten beim Wort nimmt, müsste aus China draußen bleiben, aber keiner tut das“, sagt Ye.
Alle investieren in China
Tatsächlich hält der deutsche Investitionsboom in China seit zehn Jahren unvermindert an. Im Jahr 2005 erreichten die deutschen Direktinvestitionen in China die Rekordsumme von 1,5 Milliarden Dollar. Hinzu kommen die steigenden Reinvestitionen deutscher Firmen vor Ort. Führend sind die großen deutschen Auto- und Chemiekonzerne, aber auch immer mehr mittelständische Unternehmen ziehen nach – zum Teil gezwungenermaßen, weil sie den heimischen Großkonzernen etwa in der Automobilindustrie folgen müssen. Das schafft in Deutschland neue Ängste. Die Kritik an Chinas Produktpiraterie kompensiere die Angst vor Arbeitsplatzverlusten im Westen, stellt ZF-Manager Ye nüchtern fest.
Seiner Meinung nach gehe es für die deutschen Firmen der Automobilbranche in China längst nicht mehr um Produktklau, sondern um knallharten Wettbewerb. Ein- oder zweimal im Jahr fände man nachgemachte ZF-Produkte in scheinbaren Originalverpackungen, auf denen dann ein Buchstabe anders geschrieben sei. Die eigentliche Gefahr aber drohe von den hunderten chinesischer Nachbauer, die längst genug Selbstbewusstsein hätten, unter eigenem Markennamen anzutreten. Auf neunzig Prozent aller Autoteile gebe es schließlich keine Patente. Die chinesischen Konkurrenten brächten dabei schon achtzig Prozent der ZF-Qualität zustande. Um den Vorsprung zu halten, müsse man die Mitarbeiter begeistern, damit das Unternehmen nicht zur Durchlaufstation werde. Zugleich müsse das Wissen verteilt werden, damit einzelne Personen bei einem Firmenwechsel nicht zu viel Know-how mitnähmen. „In Deutschland sagt der Chef: Du gehst! Hier ist es andersherum: Da muss der Chef die Mannschaft zusammenhalten“, sagt Ye. Das ist für ihn eines der wichtigsten Mittel zum Schutz des geistigen Eigentums in China.
So nüchtern und sachlich wie Ye sieht im Westen kaum ein Beteiligter die Dinge. Kaum einer kennt die konkreten Verhältnisse in China. Viele glauben sich an der Schwelle zu einem unvermeidbaren Handelskrieg. So auch Brad Huther. Der Chefkoordinator für Intellectual Property Rights der US-Handelskammer würde gerne aufrüsten gegen China. Seine Abteilung gibt schon mal Pressemitteilungen heraus, die übertitelt sind mit „Pharmafälschungen sind Terrorismus gegen die Gesundheit“. „Wir können Produktpiraterie gar nicht alleine bekämpfen, das ist völlig klar“, meint er. Gerade deshalb ist er mit dem Engagement der US-Regierung höchst unzufrieden. „Ich hoffe, dass Washington sich wenigstens an der Finanzierung einer internationalen Datenbank gegen Produktpiraterie beteiligt, in die insgesamt 136 Staaten in Zukunft ihre Daten eingeben wollen.“ Die meisten Maßnahmen seien aber Schattenboxen, seufzt er. „Statistisch finden Sie in der USA heute in jedem Geschäft ein gefälschtes Produkt, vom Internet ganz zu schweigen.“
Prado statt Prada
Die von US-Gerichten gegen Händler verhängten Bußgelder werden in der Regel weder bezahlt – noch eingefordert. Zudem hat der US-Zoll nur sehr eingeschränkte Rechte bei der Fahndung. Graumarktwaren, so Marc Raimondi vom US-Ministerium für Heimatschutz, müssen die Beamten als lediglich „außervertraglich produzierte Waren“ durchlassen. Das seien Waren, erklärt Raimondi, die chinesische Firmen, die offizielle Hersteller für westliche Unternehmen sind, in Nachtschichten außerhalb der Mengenverträge herstellen. Legal seien auch Waren die „confusingly similar“ genannt werden, die also aussehen wie ein bekanntes Original, aber mit veränderten Logos versehen sind, wie zum Beispiel „Prado“ statt „Prada“. Und weil die Regierung keine große Hilfe ist, setzt die Washingtoner Handelskammer ihrerseits auf aggressive Aufklärungskampagnen. Gemeinsam mit der US-amerikanischen Anwaltsvereinigung bietet sie seit einem Jahr vor allem kleinen und mittelständischen Betrieben Informationsseminare an. „Nur rund fünfzehn Prozent der Unternehmer sind sich im Klaren darüber, dass ein US-Patent sie nur in den USA vor Nachahmung schützt, nicht aber in China, und dass sie sich gegen Graumarktwaren zudem extra schützen müssen“, räumt die Handelskammer die Wissenslücken im Westen ein.
Genau die aber sind für die chinesische Seite der Kern des Problems: Zahlreiche westliche Piraterieklagen in China entbehren jeder rechtlichen Grundlage. „Geistige Eigentumsrechte gibt es nur lokal, nicht global“, stimmt der amerikanische Patentanwalt Edward Lehman Peking zu. Er ist seit 19 Jahren in China tätig und ärgert sich täglich über die Arroganz seiner westlichen Kunden. Lehman, man glaubt es kaum, ist über die Jahre zum Verfechter des chinesischen Rechtssystems gereift. In den meisten justiziablen Fällen, sagt er, erreiche er ein Urteil binnen sechs Monaten – viel schneller als im Westen üblich. Da die Rechtsprechung in Patent- und Markenschutzfällen in Peking zentralisiert sei, habe er es stets mit kundigem Justizpersonal zu tun.
Das Problem sei, dass viele westliche Firmen Markennamen und Patente nicht rechtzeitig in China angemeldet hätten. „Wer nicht anmeldet und nicht den chinesischen Gesetzen folgt, erhält in China logischerweise keinen Rechtsschutz. Die Alternative ist dann, sich bei der Presse über Piraten zu beklagen und die chinesische Regierung zu beschimpfen“, sagt Lehman, der etliche berühmte Firmennamen aufzählen könnte, die sich so verhalten haben. Zu seinen Klienten gehörten auch schon die größten westlichen Pharmakonzerne.
Der Poirot der Pharmabranche
Bei einem von ihnen arbeitet John Theriault. Er ist beim weltgrößten Pharmakonzern Pfizer mit Sitz in New York so etwas wie der Hercule Poirot der Tablettenwelt. Der drahtige Mann hatte bereits 25 Jahre FBI-Karriere hinter sich, als ihn Pfizer 1999 anheuerte, um für den Konzern gegen Pharmafälscher ins Feld zu ziehen. Seitdem schart Theriault Jahr für Jahr mehr Personal um sich, denn in der Medikamentenbranche explodiert die Zahl der Piraterieprodukte.
Gehe es bei LV und Prada lediglich um empfindliche Geschäftseinbußen, geraten durch die Pharmafälscher weltweit Menschen in Lebensgefahr, betont Theriault immer wieder. Mittlerweile seien die Fälschungen so perfekt, meint er und zeigt Fotos identischer Tabletten, dass oft nicht einmal mehr Fachleute die Kopie optisch vom Original unterscheiden könnten. Wie sollte das ein Laie schaffen, bevor er das Medikament einnimmt? Mit dem weltweiten Trend, Medikamente im Internet zu kaufen, seien die Konsumenten Fälschern schutzlos ausgeliefert. „Im Internet ist die Chance, zum Beispiel eine Viagra-Kopie statt das Original zu erstehen, heute fifty-fifty“, sagt Theriault, dessen Ermittler Kopien auch schon in deutschen Apotheken entdeckt haben. „Wir haben in Südchina mit Hilfe der dortigen Behörden ein illegales Pharmaunternehmen schließen lassen, das war dreimal größer als unsere Pfizer-Produktionsstätte dort“, berichtet Theriault. Er sieht das nicht nur negativ. Immerhin zeigten sich die chinesischen Behörden heute kooperativer als früher.
Die gute Zusammenarbeit mit chinesischen Ermittlern schätzen mittlerweile auch die Herzogenauracher Sportartikelhersteller Adidas und Puma. Beide haben aus Fehlern der Vergangenheit in China gelernt, beide haben inzwischen ausgefeilte Mechanismen zur Entsorgung von Abfallprodukten ihrer chinesischen Zulieferfabriken entwickelt. Doch mehr Namen werden bei der in Sachen Produktpiraterie klageführenden deutschen Industrie- und Handelskammer in Peking nicht genannt. Die Klagen könnten den Ruf der Unternehmen in China schädigen, heißt es zur Begründung. Gleichwohl ist der Lobbyismus der westlichen Handelskammern gepaart mit dem Drängen der Wirtschaftsverbände mitverantwortlich dafür, dass westliche Regierungen, darunter die deutsche, ihre Haltung gegenüber Peking verschärfen.
Nur wenige Unternehmer, wie der Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende Heinrich von Pierer, halten dagegen: „Die Chinesen sind doch nicht nur mit Kopieren beschäftigt. Sie bilden jedes Jahr 400.000 Ingenieure aus, die Technologie erfinden und sie dann gegenüber anderen schützen wollen“, mahnt von Pierer. Er verweist auf das Verhalten großer chinesischer Firmen wie Lenovo, Haier oder Huawei, die heute selbst für mehr Patent- und Markenschutz in China eintreten. Dem stimmt auch US-Anwalt Lehman zu: „Chinas große Firmen treten inzwischen global auf und sind genauso auf den Schutz ihrer Marken und Patente angewiesen wie westliche Firmen. Das macht sie zu starken Verbündeten für mehr geistigen Eigentumsschutz“, glaubt Lehman.