Aufklärung im Dunkelfeld

TABUTHEMA Das Parlament debattiert über Gewalt in der Pflege – doch belastbare Zahlen dazu gibt es kaum, auch die Kontrollmöglichkeiten sind beschränkt

„Ich möchte niemals, dass Angehörige mich pflegen“

HORST FREHE, GRÜNER SOZIALPOLITIKER

Das Problem ist „tiefsitzend“, sagt Sozialstaatsrat Joachim Schuster (SPD), die Debatte darüber „unterentwickelt“. Doch schon bei der Frage, wie groß das Problem der Gewalt in der Pflege überhaupt ist, herrscht Unklarheit. Zahlen gibt es kaum, belegt die Senatsantwort auf eine Grünen-Anfrage, die gestern im Parlament debattiert wurde. „Es geht erst einmal darum, das Dunkelfeld zu erhellen“, so der grüne Sozialpolitiker Horst Frehe.

Eine Befragung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen von 500 Pflegekräften ergab, dass knapp 40 Prozent sich nach eigenen Angaben mindestens einmal im vorangegangenen Jahr „problematisch“ gegenüber Pflegebedürftigen verhalten hat. Und auf einen aufgedeckten Fall eines nicht natürlichen Todes kommen vier, die nicht aufgedeckt werden, sagt Frehe. Die Polizeistatistik indes kennt zwar die „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ – doch wie viele davon pflegebedürftig sind, ist unklar. 2009 gab es 39 solcher Fälle, acht davon betrafen Opfer, die älter als 60 waren. Kranken- und Pflegekassen führen keine einschlägigen Statistiken, die Heimaufsicht in Bremen fasst entdeckte Missstände nicht gesondert unter dem Begriff „Gewalt“. Jedoch hat sie 2007 und 2008 in je einem Fall wegen „personaler Gewalt“ ein Beschäftigungsverbot verhängt. Wo genau „Gewalt“ anfängt, darüber gibt es keine einheitliche Meinung. Sicher ist: Sie ist wechselseitig, richtet sich nicht nur gegen Pflegebedürftige, sondern geht auch von ihnen aus.

Für Frehe fängt das Problem schon bei sinkenden pauschalen Vergütungssätzen an: „Es kann sein, dass da Gewalt in Kauf genommen wird.“ Die häufigste Ursache für Gewalt in der Pflege sei „Überforderung“, insbesondere bei Demenzkranken, von denen es in Bremen etwa 7.500 gibt. Zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt. In der häuslichen Pflege, sagt Ursula Arnold-Cramer (SPD), sei Gewalt „viel häufiger“ und „viel brutaler“ als in Heimen – die oft pauschal als „schlecht“ hingestellt würden.

Frehe will „ein Bewusstsein dafür schaffen“, dass es nicht immer die Kinder sein müssten, die ihre Eltern pflegen. Zugleich berichtet er von Fällen, bei dem vom Pflegegeld das Auto des Sohnes finanziert wurde. Von sich selbst sagt er: „Ich möchte niemals, dass Angehörige mich pflegen.“ Für ihn ist persönliche Assistenz die beste Form, Gewalt zu vermeiden – weil die Betroffenen hier mitreden können.

Frehe will zunächst über die Beratungsstellen „mehr Aufklärung schaffen“, aber auch die medizinischen Dienste der Krankenkassen stärker einbeziehen. Geht es um mehr staatliche Kontrolle, ist Schuster zurückhaltend. Man wolle „keinen Kontrollstaat“ schaffen, sagt er und setzt lieber auf einen „Bewusstseinswandel“, „Selbstregulierung“. Man könne Gewalt in der Pflege nicht völlig verhindern. Er sei schon froh, wenn sie „nicht strukturell“ sei, sondern „im Versagen Einzelner“ bestehe. mnz