Geschichten aus der Parallelwelt

Vor dem Landgericht muss sich der Türke Münir A. dafür verantworten, auf das Haus seines Onkels K. geschossen zu haben. Seit fast 15 Jahren lebt er hier, doch von Integration kann keine Rede sein

von Jan Zier

Es ist die Geschichte einer Familienfehde, die Geschichte eines gekränktem Vaters, der seinen Sohn zu verteidigen sucht, seinen Stolz. Und es ist die Geschichte der gescheiterten Integration eines Türken, der seit langen Jahren schon in Bremen lebt – in einer Parallelgesellschaft.

Münir A. ist 38 Jahre alt, und er sieht aus, wie man sich gemeinhin einen Türken vorstellt, trägt schwarze Haare, dazu einen Schnurrbart. Und obwohl es fast 15 Jahre her ist, dass er nach Deutschland kam, spricht er kaum ein Wort Deutsch. Vor dem Landgericht braucht er also einen Dolmetscher. Dort muss er sich seit gestern wegen versuchten Totschlags verantworten. Und weil er keine Schusswaffe hätte besitzen dürfen. Geschweige denn: eine benutzen.

Ein ganzes Magazin hat er leergeschossen an jenem Morgen des 4. Juli 2006. Abgefeuert auf einen Wohnblock in Gröpelingen, in dem er irgendwo die Familie seines Onkels K. vermutete. Wo genau sie wohnt, das weiß Münir A. bis heute nicht. Aber es spielte auch keine Rolle. „Ich wollte niemanden verletzen oder gar töten“, sagt er vor Gericht, „ich habe nur auf die Wand gezielt“. 13 Mal schoss er auf das Haus in der Barenburg, traf dort Balkonverkleidungen, Fensterrahmen, Mauern. Verletzt wurde niemand, auch das zweijährige Mädchen nicht, das auf einem der Balkone stand. Die Waffe, Kaliber neun Millimeter Parabellum, lag bei Münir A. drei Jahre lang unbenutzt im Schrank. Ein Erbstück.

Vielleicht war der Onkel an jenem Julitag gar nicht zu Hause. Ihm jedenfalls galt der Anschlag. „Ich wollte ihm Angst machen“, lässt Münir A. seinen Dolmetscher sagen. „Ich wollte, dass er sich nie wieder meiner Familie nähert.“

Warum genau sich die Familien A. und K. befehden, vermag der Angeklagte nicht zu sagen. Angefangen hat alles am Rande des Freimarktes, mit einem Streit um die Frage, ob der Sohn des A. im Auto vorne sitzen darf, und sein Großonkel im Fond Platz nehmen muss. „Und das hat die Familien entzweit?“, fragt Richter Klaus-Dieter Schromek. „Ja“. Bis zur Versöhnung dauerte es eine Woche.

Im vergangenen Sommer dann traf Onkel K. nebst Sohn seinen Großneffen dann am Unisee. Auch dort kam es zum Streit, „und ich“, sagt A. „hätte gerne gewusst, warum“. Sicher ist nur, dass Vater K. das Messer zog. Andere Quellen sprechen sogar von einer Machete. „Der liebe Gott hat verhindert, dass meinem Sohn etwas passierte.“ Eine Ohrfeige, findet A., das wäre noch in Ordnung gewesen. „Aber er wollte ihn umbringen.“ Dann kam der Sohn des K., mit einem Baseballschläger ging er auf den Sohn des A. los. Von fünf Schlägen ist die Rede, auf den Kopf, auf den Rücken.

„Ich habe darauf gewartet, dass mein Onkel sich entschuldigt“, sagt der Angeklagte. Passiert ist nichts. „Und das hat mich sehr gekränkt.“ Keinesfalls wollte Münir A. es darauf beruhen lassen. Mit seinem Onkel darüber gesprochen hat er jedoch nicht. „Jeder Mensch hat seinen Stolz“, sagt er. „Und mein Sohn, das ist mein Leben. Würde nicht jeder Vater für seinen Sohn so empfinden?“

Irgendwann rief Münir A. dann doch noch bei Familie K. an. Zahlreiche Verwandte saßen bei ihm zu Hause in Tenever zusammen, und alle konnten sie das Telefongespräch mithören. Die Großtante beschimpfte ihn, dass sein Sohn ungezogen sei, sagte A. gestern dem Landgericht. Und dann soll der Onkel aus dem Hintergrund gerufen haben: „Beim nächsten Mal wird er sterben.“

Bis tief in die Morgenstunden saß die Familie A. noch zusammen, versuchte, Münir zu beruhigen. „Doch ich konnte mich selbst nicht zur Räson bringen.“ In der folgenden Nacht tat er, wie er selbst sagt, kein Auge zu. Kurz nach neun Uhr stieg A. ins Auto, fuhr nach Gröpelingen, die halbautomatische Pistole lag unter dem Vordersitz. Davon erzählt hat er niemand.

„Ich habe einen Fehler gemacht“, sagt er heute. „Ich bereue alles.“ Doch von der Familie sitzt niemand im Gerichtssaal, der es hören könnte, die Besucherränge sind völlig leer. „Er sollte bestraft werden“, sagte Münir A. Den Namen seines Onkels spricht er nicht aus. „Jetzt werde ich bestraft.“ Seit sechs Monaten schon sitzt der Angeklagte im Untersuchungsgefängnis. Vorstrafen hat er keine. Einen Job aber auch nicht mehr. Irgendwann wurde er arbeitslos, erzählt sein Anwalt Erich Joester. Was Münir A. gelernt, was er hier gearbeitet hat, und wo – das alles bleibt unklar. Vor Gericht fragte gestern jedenfalls niemand danach.