Lyrischer Rückblick

Berndt Seite widmet sich nach seiner Zeit als Bürgerrechtler in der DDR und Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern der Literatur: Er schreibt Texte, in denen er seine Erfahrungen verarbeitet

„Ich habe während meiner Dienstzeit schon Gedichte geschrieben, um mit der Brutalität des politischen Geschäfts umzugehen“

von Gernot Knödler

Berndt Seite kennt die dunklen Seiten der Macht. Er hat sie erlebt als Regimekritiker in einer Diktatur und als Chef einer demokratisch gewählten Landesregierung. Als Mitglied der evangelischen Landessynode Mecklenburgs wurde er von der Stasi bespitzelt, er beteiligte sich aktiv an der gewaltfreien Revolution in Ostdeutschland und regierte sechseinhalb Jahre lang das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Jetzt widmet er sich einer Vita contemplativa: Er studiert und verarbeitet sein Leben in Gedichten und Erzählungen.

Seite, dessen medial vermitteltes Bild einen hölzernen Menschen zeigt, dem es schwer fällt, den richtigen Draht zu den Menschen zu finden, ist nichts weniger als das. Im geräumigen Wintergarten seines Tierarzt-Häuschens sitzt ein fideler Mittsechziger in Jeans und kurzärmeligem Hemd, mit Lachfalten um die Augen, an der Welt interessiert und begeisterungsfähig. Um die Ecke steht eine Tafel mit einem Dutzend Stühlen, ausbaufähig, wie der Hausherr versichert.

Zwei- bis dreimal im Jahr laden er und seine Frau Annemarie Freunde aus dem ganzen Land ein. Auch während seiner Zeit als Ministerpräsident hat er an diesen Einladungen und Freundschaften festgehalten. „Mich haben da ganz wenige Leute angerufen“, erinnert sich Seite. Er habe sich dann eben selbst gemeldet, per Autotelefon. „Ich wusste, dass das ein Amt auf Zeit ist.“

Der gelernte Tierarzt war ein Quereinsteiger, wie ihn nur die Wende hervorbringen konnte. Erfahrungen mit demokratischen Gremien brachte er aus der evangelischen Landessynode mit. „Es ist ja nicht so, dass ich aus den Gummistiefeln in die große Politik gestiegen bin“, sagte er. Er sei immer politisch interessiert gewesen und habe sich alles, was an politischen Zeitschriften möglich war, gehalten. „Entscheidend war, dass man die entsprechenden Drähte hatte“, sagt Seite, persönliche Verbindungen in der ganzen DDR, die es einem ermöglichten, einen halbwegs realistischen Blick auf die Verhältnisse zu werfen.

Nach der Wende wurde er Landrat in seinem Heimatkreis Röbel an der Müritz, dann Generalsekretär der CDU in Mecklenburg-Vorpommern und am 19. März 1992, nach dem Rücktritt Alfred Gomolkas, Ministerpräsident. Seite, der 1979 kurz davor stand, aus der DDR zu fliehen, 1989 die Bürgerrechtsgruppe Neues Forum in seinem Landkreis mitgründete und zu Demonstrationen aufrief, drängte als Landrat und CDU-Generalsekretär rigoros ehemalige SED-Funktionäre aus ihren Ämtern.

Nicht, dass es ihm schlecht gegangen wäre in der DDR: Mit zwei Tierarzt-Gehältern und dem Häuschen in malerischer Lage habe man „gut gelebt“. Ihm setzten die Unfreiheit, die Blockwart-Mentalität und das Duckmäusertum zu. Bei einer Reise für die Kirche in die USA habe er die Westdeutschen erlebt, erzählt Seite: „Wie locker die waren, in ihrem ganzen Gehabe.“ Nach der Rückkehr habe er die DDR mit anderen Augen gesehen. Die Schwierigkeiten des Familiennachzuges und die Verankerung in der Kirche hielten ihn im Land.

Berndt Seite glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod. Der Glaube, die Auseinandersetzung mit dem Christentum, ist für ihn eher ein psychologisches Hilfsmittel. „Der Mythos lebt“, sagt er. „Das ist entscheidend.“ Man höre Bibelstellen und fühle sich in der Welt aufgehoben. Der evangelischen Kirche wirft er vor, dass sie zu sehr politisch agiere und dabei die Seelsorge vernachlässige. „Ich stehe auch Sekten nicht so kritisch gegenüber, weil ich sehe, dass die Kirche, wie wir sie haben, viele Bereiche nicht abdeckt“, sagt er.

Ein anderer Weg, mit dem Leben zurecht zu kommen, ist für Seite das Schreiben. Zwei Bände, von einem befreundeten Kinderarzt gesetzt und illustriert, hat er in diesem und im vergangenen Jahr herausgebracht. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat 2004 eine Erzählung von ihm veröffentlicht, in der er schildert, wie aufgebrachte Menschen eine Stasi-Kreiszentrale besetzen, um zu verhindern, dass ihre Akten verbrannt werden. Er beschreibt die Angst, wie sie sich körperlich bemerkbar macht, und das prekär Offene der damaligen Lage. Es war nicht selbstverständlich, dass diese Besetzungen, wie es sie an vielen Orten in der sterbenden DDR gab, ohne Blutvergießen vonstattengingen.

In seinen Gedichten und Aphorismen setzt sich Seite mit allen möglichen Themen auseinander, vom Baumkataster, über das Altern bis zur Brasilienreise – auch mit der Politik. Dass, wer politisch handelt, sich mit dem Dämon einlassen muss, wie es Max Weber ausgedrückt hat, bejaht der Zweifler Seite unumwunden. „Macht macht süchtig nach mehr“, schreibt er in einem Aphorismus. „Man kommt in einen Pragmatismus“, sagt er und erzählt von den Verhandlungen über die Privatisierung der Werften: Wie viele müssen entlassen werden, damit die Betriebe überleben können? Wie viele Entlassungen verkraftet das Land, wie viele die Regierung?

„Ich habe während meiner Dienstzeit schon Gedichte geschrieben, um mit der Brutalität des politischen Geschäfts umzugehen“, sagt der Ministerpräsident a. D. Besonders drastisch war, dass ihm sein Innenminister Georg Diederich eine Mitarbeit bei der Stasi unterstellte. „Das war schlimm“, sagt Seite. Er seufzt und streicht sich über die Arme. Damals ließ er seine Akten aus der Gauck-Behörde in einer Fraktionssitzung präsentieren. „Ich habe vor der Fraktion mein Leben ausgebreitet, was mir meine Frau noch heute übel nimmt“, erzählt er. Weil er Mitglied der Synode war und als Regimekritiker galt, hatte ihm die Stasi Dutzende Spitzel auf den Hals gehetzt. Diederich wurde aus der Fraktion ausgeschlossen.

„Je mehr Macht Sie haben, desto einsamer sind Sie“, sagt Seite. Bitter war für ihn, dass die Leute aus der Bürgerrechtler- und Kirchenszene, die so eng zusammengestanden hatten, mit seinem politischen Aufstieg von ihm abrückten. „Bruder Seite, du hast so viel zu tun“, habe ihm der Präses der Synode gesagt, als er ihn aufforderte, sein Mandat niederzulegen. Damals habe er sich gefragt: „Bin ich denn jetzt ein grundlegend anderer geworden?“

Nach seiner Wahlniederlage 1998 blieb Seite zwar bis 2002 im Landtag, trat aber politisch nicht mehr in Erscheinung. Ein einziges Mal, im Oktober 2002 meldete er sich in einem Zeitungsartikel mit dem Vorschlag zu Wort, einen Nordstaat zu bilden. Er sei bewusst der „babylonischen Gefangenschaft der Partei“ entflohen, um die Freiheit zu haben, „andere Dinge zu machen und zu sagen“: nicht mehr unter Beobachtung stehen, nicht mehr fürchten müssen, ins Fettnäpfchen zu treten, wie es ihm in seiner Zeit als Spitzenpolitiker bisweilen vorgeworfen wurde.

Seit seinem Rückzug aus der Politik hat Seite mehrere Reisen auf Frachtschiffen unternommen. „Auf dem Meer spielt das Leben so hart, wie es eigentlich ist“, findet er. Der Ministerpräsident a. D. hat sich beeindrucken lassen von der Leere der Meere, der Armut Afrikas und dem Glauben der philippinischen Seeleute.

Als Gasthörer besucht Seite Vorlesungen und Seminare an der Universität Rostock, Germanistik und Philosophie. Seite genießt das Zusammensein mit jungen Leuten. Er hat Seminare über Lebenskunst und die Philosophie der Moderne belegt und den Leviathan von Arno Schmidt. Die Erkenntnisse aus einem Hauptseminar über autobiografisches Schreiben verwertet er direkt. „Ich arbeite seit Jahren an einer autobiografisch gefärbten Erzählung“, sagt Berndt Seite. Darin wird er wohl auch erzählen, wie sie ihn in der Garderobe des Schweriner Kulturhauses fragten, ob er nicht Ministerpräsident werden wolle. Er hatte drei Stunden Bedenkzeit.