Mit Fotofix gegen Erfahrungsschwund

Der 25-jährige Schriftsteller Jörg Albrecht ist gerade aus dem Ruhrpott nach Berlin gezogen. In seinem störrischen Debüt „Drei Herzen“ verarbeitet er seine 90er-Jahre-Jugend zwischen den 68er-Eltern, Helmut Kohl und Tocotronic. Herausgekommen ist ein rasanter Poproman ohne jede royale Tristesse

Er hat keine Lust auf das gepflegte „neue Erzählen“. Er geht auf Risiko und rast los

VON TIMO FELDHAUS

Das ganze Buch hindurch schießt den Figuren andauernd Blut aus der Nase. Erst den Großeltern, im Dritten Reich im Widerstand als Edelweißpiraten, dann den Eltern, um 1968 herum auf dem Weg in eine emanzipiertere Gesellschaft, und schließlich dem Sohn, dem Erzähler. Der sitzt mit seinen drei Freunden in einer gesichtslosen Stadt, schaut sich alte Fotos, Dias und Super-8-Filme an und versucht, die Geschichten seiner Familie zu einer einzigen Geschichte zu rekonstruieren. Natürlich möchte er auch hinter dieses Geheimnis kommen, das drei Generationen zu verbinden scheint – dieses ominöse Nasenbluten, das alle Familienmitglieder heimsucht.

„Drei Herzen“, so heißt der Debütroman von Jörg Albrecht. Der 25-jährige Neuberliner erzählt in ihm eine Familiengeschichte als Mediengeschichte – in einem „Sommer, in dem alle Bilder zusammenfallen, das schwarzweiße Bild und das Super-8-Bild und das digitale Bild“. Und in diesem Crash der Bildformate fallen dann außerdem noch die Orte und die Menschen zusammen. Über die Medien findet Albrecht Verbindendes, aber auch Spaltendes, ein Werkzeug, das die Welt in poetische Einzelteile zerlegt. Dabei ist sein Stil rasant, kennt keine Fragezeichen, lässt Sätze unvollständig und macht nichts als Punkte.

Bevor ich mich in den Zug setze, um Jörg Albrecht in seiner alten Heimat in Bochum zu treffen, gibt er mir durchs Telefon durch, ich solle das Buch schnell lesen – anders würde es nicht funktionieren. Ich treffe den Jungschriftsteller im Café des Bochumer Schauspielhauses, in dessen „Kleinem Haus“ er bald sein neues Theaterstück aufführen wird. Vor drei Jahren hat er hier bereits Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ inszeniert, jetzt ist das Leben Kleists dran. Während dieser Zeit pendelt Albrecht zwischen Bochum und Berlin. Eine Wohnung hat er mittlerweile nur noch in Kreuzberg. Und trotzdem – er mag den Pott mit seinem weit verzweigten Städtenetz. In Bonn geboren, hat er in Bochum studiert und in Dortmund gewohnt. 2005 gewann er den 2. Preis beim Open-Mike-Literaturwettbewerb in Berlin – indem er klarmachte, dass die Welt für ihn eine mediale Obsession ist: Er las, er nahm das Gelesene auf, er brachte zuvor Eingelesenes mit – und ließ das alles parallel ablaufen. Dazu legte er Dias auf, zeigte Filme und arbeitete live noch mit einem Musiker zusammen.

Während viele Kollegen unter den so genannten deutschen Popliteraten die Medienwirklichkeit von innen protokollieren, indem sie wie Benjamin von Stuckrad-Barre das Fernsehen mit seinen Inhalten und Protagonisten in erzählender Prosaform analysieren und an Oberflächen vermeintliche Hintergründe beschreiben, spricht bei Jörg Albrecht die Literatur direkt aus dem medialen Format: Das filmische Schneiden, das Fetzenhafte, das mal Rohe, mal Farbige ist es, aus dem Albrechts skizzenhafte und unnahbare Prosa besteht. Aber nicht nur über die Form, auch über den Inhalt passiert bei ihm die Fetischisierung der Medien: Namen und Funktionen technischer Geräte werden für den Erzähler zu einer Besessenheit, wieder und wieder fallen längst vergessene Namen wie die der Kameras Voigtländer Vito 1 oder Kodak Ektasound 130.

Dem Roman vorangestellt sind Zitate von Gertrude Stein, Rolf Dieter Brinkmann und der Band Tocotronic. Ein Rahmen aus Gestern und „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. So sitzen Pitje, Nora und Josh in ihren Zimmern und Elternhäusern, am Ende des letzten Jahrhunderts. Und versuchen, durch die medial dokumentierte Vergangenheit der Eltern und Großeltern zu sich selbst zu kommen. Albrecht sagt, dass die Neunziger-Jugend einem seltsamen Zwang zur Rückschau unterworfen war: „Als westdeutscher Jugendlicher unter Kohl hatte man immer das Gefühl, dass politisch total viel passiert, man aber immer nicht richtig Teil daran hatte. Da staute sich so ein Leerraum an Erfahrung, den ich versucht habe einzufangen. Einen Erfahrungsschwund.“

Diesen Leerraum, diese uneigentliche Blase des eigenen Lebens, versuchen die Jugendlichen in „Drei Herzen“ über die Geschichte ihrer Familien zu füllen: Da gab es wenigstens noch Widerstand, Intensitäten zu finden auf Fotos und Filmen. Um diese Welthaltigkeit selbst auszulösen, treffen sich die Jungen schließlich in den Fotofixautomaten ihrer Stadt – einer namenlosen Stadt, die nichts mit den Orten der bisherigen deutschen Popliteratur zu tun hat. Hier gibt es kein München, kein P1, keine Glamour-Agentur. Hier spricht kein Berlin, und die Tristesse ist auch nicht royal.

Die Stadt der „Drei Herzen“ ist „die Rückbank des kleinen roten Autos, der schwarze Rand von Börries’ Brille, die Nachmittage und die Kopfhörer im kleinen Plattenladen“. Die Jugend der Neunziger bevölkert sie, ausgestattet mit ihren Sehnsuchtsausdrücken: Die Köpfe sitzen zwischen Retro-Seitenscheiteln, zu großen Nerd-Brillen und zu engen T-Shirts, die Ohren können sich nicht zwischen Nirwana und der Hamburger Schule entscheiden. Jörg Albrecht trifft und hat richtig verstanden. Voller Solidarität mit seinen Protagonisten sagt er: „Wenig Information, wenig Erfahrung lässt viel Platz für das Eigene – wenn man es nur positiv zu nutzen weiß.“

Albrecht zumindest weiß, wie das geht. Er verwebt in „Drei Herzen“ die verzweigten, oft störrischen Stimmen in seinem Zitatgewebe zu einer einzigen, die nostalgisch ist, die erinnert, die aber vor allem eine Sprache entwirft, die nach vorne drängt. Er hat keine Lust auf das gepflegte „neue Erzählen“: Er geht auf Risiko, drückt auf Start und rast los, durch eine eigenwillige Bilderflut – mitten rein in einen Poproman zwischen Blut und Fotografie, Erinnerung und Medienwirklichkeit.

Jörg Albrecht: „Drei Herzen“. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 239 Seiten, 19,90 €