SCHWEIZ – HONDURAS IM HELVETIA
: Der Alm-Öhi ist auch nur ein Berliner

VON LUKAS WALLRAFF

Über die Schweiz grassieren viele Vorurteile. Kurz zusammengefasst: stinkreiche Bergbewohner, die ihren beneidenswerten Lebensstandard unseren Steuersündern und Diktatoren aus aller Welt verdanken, die ihre Gastarbeiter ungefähr so freundlich behandeln wie der Emir von Katar, die außer Käse nichts auf der Pfanne haben – und natürlich: die nicht kicken können. Als einziges nennenswertes Ereignis der Schweizer Fußballgeschichte gilt das 3:2 von Bern. Von Fußballkultur keine Spur, deshalb ist da auch der Sitz der Fifa. Stimmt das alles?

Faktencheck im Helvetia gegen Honduras:

Stinkreich? Sieht hier nicht so aus. Auch wenn viele Gäste sauber und damit besser gekleidet sind als die Kreuzberger Durchschnittsbürger, wirken die meisten doch wie normale Anwohner, also Studenten und/oder Easy-Jet-Touristen.

Bergbewohner? Einer. Der Alm-Öhi wie aus dem Bilderbuch (großer Rauschebart, kleines Bäuchlein, rotes Schweiz-T-Shirt) entpuppt sich allerdings als sympathischer Urberliner, der nur seine Schweizer Frau begleitet – und im Fußballalltag einen Berliner Fanclub des 1. FC Nürnberg leitet. Freiwillig!, und nicht qua Geburt zum Fansein verdammt wie ich. (Zufall, die Begegnung, ich schwöre es!)

Lebensstandard? In der Tat beneidenswert – vor allem, wenn man nur einen Platz auf den harten Bierbänken ergattert und den Glücklichen zuschauen muss, die an rot-weiß-kariert geschmückten Tischen direkt vorm Fernseher Käsefondue schnabulieren.

Alles Käse? Ja. Fondue für zwei: 28,50 Euro – und viele weitere unschweizerisch preiswerte Speisen. Gute Speisen! Dafür bürgen jedenfalls der Duft und die Anwesenheit eines Betreibers der gastronomischen Spreeufer-Perle Kater Holzig. Der kann das beurteilen, ist ja selbst ein Schweizer.

Unfreundlich zu Migranten? Niemand. Wäre jetzt auch blöd, da die Mannschaft samt Trainer nahezu komplett aus Menschen mehr oder weniger exotischer Migrationshintergründe besteht – wie auch Teile der Helvetia-Belegschaft und der Gäste.

Die Schweizer Spielweise erinnert zwar eher an Bern-Wankdorf 1954 als an Pep Guardiola, aber gegen Honduras reicht das – dank der drei Tore des Münchner Kosovo-Schweiz-Albaners Xherdan Shaqiri. Wer will da noch meckern? Etwa die Mehrheitsschweizer, die gerade erst per Volksabstimmung gegen Einwanderung votierten?

„Die sitzen in ihren Tälern und haben keinen TV-Empfang“, höhnt eine Exilschweizerin über die mutmaßlich ignorantere Landbevölkerung. „Die sollten nicht schauen dürfen“, sagt eine Friedrichshainerin aus Genf über die Einwanderungsgegner in der Heimat– und verrät nebenbei, wem sie das WM-Aus am schnellsten wünscht: den Franzosen. Die könne in der Französischen Schweiz nämlich keiner ausstehen. Im weiteren Gespräch, das interessanter ist als das Spiel, lässt sie zwei Worte fallen, die für die Schweizer Migrationsdebatte zentral sein dürften: „irrational“ und „Minderwertigkeitskomplex“.

Gegen Honduras besteht dazu kein Anlass, beide Länder begegnen sich auf Augenhöhe.

Keine Fußballkultur? Doch. Großer Andrang trotz ungünstiger Bedingungen (2:5 gegen Frankreich in den Knochen, spätes Spiel an Werktag). Angenehme Stimmung: viel Applaus, kein Gesang. Voll und warm wie im brasilianischen Dschungel von Manaus. Auch der Beitrag des Ex-Nürnberger Kroato-Schweizers Josip Drmic zum 3:0-Sieg (zwei Pässe) wird beklatscht. Also echte Sachkenntnis!

Heimmannschaft: Schweiz

Gästeblock: deutsche Nachbarn und Touristen

Stadionimbiss: Käsefondue, Käsespätzli, Käseröschti

Ersatzbank: Max und Marek, Reinickendorfer Straße 96, Wedding

Rote Karte: Blatter-Sepp (Reaktion auf Einblendung: Buh!)

Helvetia, Mariannenstraße 50, Kreuzberg