Fleisch ist Mutti

SÜNDE Man könnte ja Nein sagen. Aber will man das? In Südamerika ist Fleisch einfach zu lecker

Wer nach Lateinamerika reist, sollte sich zuvor nicht nur eine Geldfieberimpfung verpassen lassen, sondern beim Passieren der Grenze alle Maßstäbe vergessen, was den als normal geltenden mitteleuropäischen Fleischkonsum betrifft. Denn in dieser Hinsicht ist auf diesem Kontinent nichts normal. Fleisch wird exzessiv gegessen, egal ob rotes, weißes oder unbekanntes wie Emu oder Lama. Fleisch ist Liebe, Kümmern, Verwöhnen. Fleisch ist Mutti. Und zwar, weil es so gut und preiswert ist und so vielfältig zuzubereiten – quasi das, was bei uns Kohl und Kartoffeln darstellen. Nur ungesünder. Aber lecker, klar.

Schon zum Frühstück kredenzt zum Beispiel der Brasilianer gern geschmortes Rind in einer leichten Sauce. Der Körper verdaut eigentlich noch die Fleischberge des vorangegangenen Abends, aber bevor er damit fertig werden könnte, wird das Depot mit 200 Gramm Filet aufgefüllt. Zum Mittagessen gibt’s dann zu den Salaten, von denen viele mit Schinken oder Fleisch aufgerüscht wurden, erst mal ein, zwei Rindersteaks. Oder Lammkeule. Oder Grillhähnchen. Auf jeden Fall Fleisch.

Das kann aber nur als eine Art Transit gelten zur wichtigsten Mahlzeit des Tages, dem Abendessen. Gern sucht dann der Brasilianer mit der Familie eine Churrascaria auf, wo es zum All-inclusive-Preis frisch gegrilltes Fleisch vom Spieß gibt. Na gut, auch ein Salat- und ein Dessertbuffet – aber wer braucht sowas, wenn aus allen Richtungen Kellner auf den Gast zustürmen, in ihren Händen lange, mehrzackige Edelstahlspieße, von denen sie auf einen Fingerzeig hin ein paar hundert Gramm Fleisch absäbeln. In einigen Restaurants stehen auf den Tischen Schildchen, die man von Grün auf Rot drehen kann, um dem Personal zu bedeuten, dass man nicht weiter behelligt werden will.

Aber man will ja behelligt werden. Das Fleisch der südamerikanischen Tiere zu essen ist eine Wonne. Eine leckere Unvernunft, die man genießen sollte, bevor es ins Kartoffelland zurückgeht.

ANJA MAIER