Gespenst über Bergisel

Anders Jacobsen gewinnt das dritte Springen der Vierschanzentournee. Austrias Jungadler Gregor Schlierenzauer, dessen Körpergewicht für viel Gesprächsstoff gesorgt hatte, fällt weit zurück

aus innsbruck kathrin zeilmann

Gewonnen am Bergisel hat der Norweger Anders Jacobsen, die meisten der Zuschauer freuten sich über den zweiten Platz des österreichischen Olympiasiegers Thomas Morgenstern, und doch herrschte eine eigenartige Stimmung an der Schanze bei Innsbruck. Denn es war viel diskutiert worden vor dem Wettbewerb über einen Jungen, einen, der ziemlich blass ist um die Nasenspitze. Wäre Gregor Schlierenzauer ein normaler Teenager, der irgendwo die Schulbank drückt und nachmittags vor dem PC sitzt, würde man ihm empfehlen, sich vielleicht etwas häufiger an der frischen Luft aufzuhalten. Schlierenzauer aber ist Skispringer, und in dieser Eigenschaft weht ihm der Wind ziemlich häufig um die Nase. Sein Trainer Alexander Pointner sagt, sein Schützling leide unter Eisenmangel, weil er im Dezember krank gewesen sei. Weil Schlierenzauer neben seiner fahlen Gesichtsfarbe aber auch noch mit einem schlaksigen und dünnen Körper aufwartet, geht im Skisprungzirkus wieder ein Gespenst um. Dieses Gespenst würden die Verantwortlichen im Österreichischen Skiverband (ÖSV) am liebsten sofort wieder vertreiben, hat es doch die Party auf der Bergisel-Schanze zu Innsbruck empfindlich gestört.

Anstatt über Schlierenzauers Aussichten auf den Gesamtsieg, die nach seinem 11. Platz gestern doch recht gering geworden sind (Jacobsen liegt 20 Punkte vor dem Österreicher), zu debattieren, musste über das Gespenst geredet werden. Das Gespenst ist dürr und hungert, um auf der Schanze möglichst weit zu fliegen. Vor ein paar Jahren tauchte es in der Gestalt von Sven Hannawald auf, der sich als Gestalt von nur Haut und Knochen an einem Badestrand fotografieren ließ. Ein leichter Körper fliegt weiter – nach dieser Maxime lebten die meisten Skispringer, sie verkniffen sich jede noch so kleine kalorienhaltige Sünde und versagten sich nicht selten auch ganze Mahlzeiten. Die Diskussion um Magersucht im Skispringen drohte zu eskalieren, da offenbar auch Jugendliche in der Wachstumsphase auf Nahrung zugunsten der Flugfähigkeit verzichteten. Der Weltskiverband FiS hat deshalb ein Regelwerk eingefügt, das ein Mindestgewicht in Relation zur Körpergröße vorschreibt. Wer das nicht auf die Waage bringt, bekommt die Skier gekürzt. Das funktionierte ziemlich gut, ein kräftiger Absprung wurde für das Skispringen wichtiger als ein filigraner Flug.

Jetzt also springt der schmale und blasse Schlierenzauer ziemlich weit vorne mit, er hat gekürzte Skier, weil er weniger wiegt, als er laut FiS-Regel sollte. Seine wahre Stärke werde sich erst im Erwachsenenalter zeigen, unkte der finnische Trainer Tommi Nikunen, und die Zeitungen in seiner Heimat eröffneten eine Debatte um Schlierenzauers Gewicht, was dessen Trainer Pointner ziemlich in Rage bringt: „Wer Gregor in die Augen schaut, weiß, dass er gesund ist.“ Auch Toni Innauer, Chef der österreichischen Skispringer, findet: „Das ist alles ein bisserl spekulativ.“ Dabei sei Nikunens Aussage freilich gar nicht mal so falsch, sagt Innauer. Tatsächlich werde die Konkurrenz schon merken, wie stark Schlierenzauer ist, wenn er nicht mehr im Körper eines Jugendlichen springt. „Ich bin überzeugt, dass er kein Springer ist, der nur vorrübergehend wegen einer körperlichen Spezialeigenschaft in Erscheinung tritt. Gregor lebt auch von seiner Sprungkraft und wird sich entsprechend umstellen.“

Für Innauer und die meisten anderen Österreicher ist das Thema damit erledigt, Austria berauscht sich lieber am neuen Schanzen-Wunderkind. Waren im Vorjahr gerade einmal 15.000 Zuschauer zum Bergisel gepilgert und haben eine nur mäßig stimmungsvolle Kulisse geboten, so wollten in diesem Jahr mehr als 20.000 Fans den Athleten beim Springen zuschauen. Österreichs Skispringen steht gut da. Thomas Morgenstern hat bei Olympia 2006 den Einzeltitel gewonnen, auch Teamgold ging in die Alpenrepublik, das Reservoir an begabten Nachwuchsleuten scheint unerschöpflich. Einer von ihnen ist Toni Innauers Filius Mario, der es gestern bis ins Finale schaffte.

Gregor Schlierenzauers Mutter hat noch verraten, dass ihr Sohn gerne kocht, Chinesisch zum Beispiel. Bleibt die Frage, ob er vom Selbstgekochten auch mal isst.