Schmerz, lass doch bitte nach!

Von einem, der sich zu einer Routine-OP unters Messer legte. Und dabei nicht nur lernte, was Schmerzen sind – sondern auch, wie gestandene Männer damit umgehen

AUS BERLIN PHILIPP GESSLER

„Gehabte Schmerzen, die hab’ ich gern.“

(Wilhelm Busch)

Dass die Sache wirklich ernst werden würde, ahnte ich erstmals in der HNO-Praxis. Der Arzt hatte mir gerade die Überweisung zu einer Operation geschrieben: die Entfernung der Mandeln. Ob das denn weh tue, fragte ich etwas naiv beim Herausgehen eine Arzthelferin – eine beruhigende Antwort erwartend. Sie nickte nur knapp. Aber man dürfe doch dann Eis essen, versuchte ich ein Witzchen. Sie lächelte mitleidig. So sollte ich also lernen, was Schmerzen sind. Und wie Männer damit umgehen.

Meine Mandeln, diese zwei etwa knopfgroßen Organe am Gaumen, sind chronisch entzündet. Die Dinger müssen raus. Wie gefährlich eine solche Operation sein kann, schwant mir, als ich die fast ein Dutzend Papiere unterzeichne, die mir beim Informationsgespräch im Krankenhaus am Vortag des Eingriffs vorgelegt werden: Alles kann schief gehen, sterben kann ich dabei natürlich auch. Aber die Klinik soll weder Schuld noch eine Klage des Geschädigten treffen, deshalb die Unterschriften.

Dank Antibiotika schmerzfrei finde ich mich am folgenden Tag um 6.30 Uhr im Krankenhaus ein – es wird schon alles gut gehen. Ich muss ein Leibchen und Thrombose-Strümpfe anziehen, sie sind eng, hoch und weiß. Ich fühle mich wie im Mädchen-Ballett. Zweimal schiebt man mich, eine kleine Panne, auf meinem Bett in den Vorraum des OP-Saals. Beim zweiten Mal bekomme ich eine Narkose … ich bin sofort weg. Als ich erwache, liege ich wieder im Zimmer. Ich habe keine Schmerzen. Nur getrocknetes Blut auf meiner linken Hand zeigt, dass was passiert sein muss.

Dann nimmt die Wirkung des Schmerzmittels ab. Die Schmerzen im Rachen kommen. Sie bleiben über eine Woche, sie sind immer da, Tag und Nacht. Jeder Schluck ist eine Qual. Im Mund sammelt sich Speichel, weil ich mich zu jedem Schlucken überwinden muss. Ich kann kaum reden. Es sind sehr stille Tage.

Ich erinnere mich an eine Geschichte meines Vaters, der kurz vor seiner Heirat auch die Mandeln entfernt bekam. Seine Verlobte, meine Mutter, reiste Hunderte Kilometer an, um ihn am Krankenbett zu besuchen. Nach zehn Minuten machte er ein Handzeichen, dass er einen Stift und Zettel bräuchte. Darauf schrieb er: „Bitte geh!“

Neben mir im Zimmer liegt Harry*, ein Bayer, den es nach Berlin verschlagen hat. Er hat eine Nasenoperation hinter sich und klagt über die Schmerzen bei den Infusionen. Vor allem aber erzählt er: von seiner vietnamesischen Frau, der Politik, der schlechten Krankenhauskost, der gesunden Ernährung an und für sich und der Rückversicherungsbranche, in der er arbeitet. Er erzählt viel, ist nicht zu stoppen. Zumindest ich kann es nicht. Mehr als ein „Ahja“ kriege ich nicht raus. Krankenhaustage können lang werden.

Sehr geschickt versteht es unser Zimmergenosse Mike, ein „Gestalter“, sich dem Redeschwall Harrys zu entziehen. Was er als „Gestalter“ eigentlich macht, kann ich Wortloser nicht richtig rauskriegen – hört sich interessant an. Hippe junge Kollegen und hübsche Freundinnen besuchen Mike. Er kann mit ihnen sprechen. Sie reden viel über neueste Unterhaltungsmedien, Geräte, deren Namen ich noch nicht mal kenne.

Mike wurden auch die Mandeln entfernt. Sie waren so angeschwollen, dass er fast erstickt wäre, berichtet er. Mike kommt offenbar besser mit den Schmerzen zurecht, denn das sei alles nichts im Vergleich zu denen, die er vor der Operation gehabt habe. Er nimmt schon zwei Tage nach der OP keine Schmerzmittel mehr – die Krankenschwestern mögen ihn.

Ich brauche Schmerzmittel, und zwar dringend. Ich bin 39 Jahre alt und hatte noch nie länger Schmerzen. Ich war nur einmal als kleines Kind im Krankenhaus und habe keine Erinnerung daran. Gebärschmerzen kenne ich nicht. Sie seien härter, sagt meine Frau. Andere meinen, eine Mandel-OP tue ähnlich weh. Je älter man sei, so heißt es, desto mehr schmerze sie.

Eine halbe Stunde vor den Mahlzeiten, sagen die Krankenschwestern, sollten wir Schmerzmittel nehmen. Damit wir irgendetwas runterkriegen. Mike isst tapfer. Aber von seinen weichgekochten Mahlzeiten schafft er auch nur die Hälfte, bestenfalls. Ich bin schon froh, wenn ich eine Weißbrotscheibe runterwürgen kann. Am dritten Tag esse ich mittags ganze zwei Nudeln. Ich zwinge mich, wenigstens genug zu trinken. Aber am zweiten Tag nach der OP bekomme ich eine Infusion, damit ich nicht austrockne. Nach fünf Tagen habe ich über fünf Kilo abgenommen. Meine Frau ist begeistert.

Sie kommt fast jeden Tag mit den Kindern zu Besuch. Ich freue mich, aber die Freude nimmt schnell ab. Ich stinke aus dem Mund, da ich mir tagelang die Zähne nicht putzen darf. Auch Duschen ist nicht drin, damit mein Puls nicht hochgeht und die Adern nahe der operierten Stellen nicht anschwellen – es könnte zu gefährlichen Blutungen kommen. Meine Haare werden fettig, ich habe einen Fünf-Tage-Bart. Der Firnis der Zivilisation wird brüchig. Reden kann ich mit meiner Frau kaum. Die Kinder darf ich nicht hochheben, ja keine Belastung! Meine Tochter schüchtert die Krankenhausstimmung ein, ängstlich schaut sie auf den Spritzenzugang auf meinem linken Handrücken. Keine Ahnung, wie ich mit ihr kommunizieren soll.

Ich habe aber auch nichts zu erzählen. Ich lese, wenn ich mich konzentrieren kann, ein schönes Buch über den Islam – und wenn das mit den Schmerzen so weitergeht, werde ich bald gen Mekka beten. Aber das geht ja nicht, das Niederknien wäre zu viel Anstrengung. In der Nacht, wenn die Schmerzmittel überhaupt nicht mehr wirken und ich keine neuen kriegen darf, schlurfe ich dauernd zum Getränkewagen auf dem Flur, hole mir eiskalten Kamillentee und setze mich in den kleinen Aufenthaltsraum. Dort gibt es ein paar Bücher, offenbar Geschenke an die Klinik. Ich lese irgendetwas, um mich abzulenken, selbst über Veit Stoß – ist ja auch egal.

Es wird einem sowieso bald alles egal außer dem Wunsch, keine Schmerzen zu haben. Die Krankenschwestern haben die nötige Härte, um mit jammernden Männern umzugehen. Am dritten Tag nach der OP habe ich nach dem Frühstück die fixe Idee, dass aufgrund der Schluckprobleme ein Brotrest im Rachen zurückgeblieben sein muss – der Arzt muss mich nach einer Untersuchung mit ernstem Gesicht überzeugen, dass das nicht der Fall ist. Es ist nur das absurd lang angeschwollene Zäpfchen im Mund, das bei der OP etwas verletzt wurde. Als ich nach einem Besuch meiner Familie ein wenig Blut spucke, muss mir eine Krankenschwester dreimal versichern, dass dies nichts Schlimmes ist. Ich sehe mich schon erneut auf dem OP-Tisch liegen.

Am dritten Tag nach meiner Operation verlassen Harry und Mike hoch erfreut und einigermaßen auskuriert das Zimmer – Harry duscht sich, spannt seine Bizepse an und sagt, er sei wie ein neuer Mensch. Ich bin neidisch auf ihn. Statt ihrer kommen noch am gleichen Tag Herr Alexander und Martin. Die beiden reden fast gar nicht. Es wird noch stiller im Krankenzimmer.

Herr Alexander ist ein fast 80-jähriger Russlanddeutscher, der früher in Omsk als „Metallurg“ gearbeitet hat, wie er sagt. Ein harter Junge. Herr Alexander wurde an der Nase operiert und nimmt keine Schmerzmittel. Er pult vor dem Spiegel im Badezimmer an seinem blutdurchtränkten Verband unter seiner Nase. Regelmäßig bleiben Blutspuren übrig. Herr Alexander sagt fast nie etwas. Nur die Krankenschwestern motzt er an: Einmal, als sie ihn fragen, ob er Schmerzen habe: „Njatürlich chabe ich Schmerzen!“ Das zweite Mal, als er die ihm angebotenen Schmerzmittel verweigert: „Aber das hiiielft doch njichts!“

Herr Alexander tigert vor lauter Schmerzen stundenlang durchs Zimmer, auf und ab. Er lächelt nur einmal, als er in einer Volksmusiksendung, bei der ich beim Zappen lande, die Wildecker Herzbuben sieht. „Die Buben!“, sagt er strahlend. Ich gebe ihm meinen Kopfhörer, damit er die TV-Sendung auch mit Ton verfolgen kann – jetzt bin ich fast sein Freund. Aber eigentlich haben wir zu viele Schmerzen für irgendwelche Gefühle.

Martin ist vor allem wütend. Er hatte Jugendliche gut berlinerisch am Vorabend angefahren, sie sollten das Sprayen an einer Wand in Berlin-Friedrichshain lassen. Es kam zu einer Prügelei, die damit endete, dass ihn einer der Jungs von hinten eine offenbar zerschlagene Bierflasche ins linke Ohr rammte. Er hatte Glück, dass sein Gesichtsnerv dabei nicht durchtrennt wurde.

Jetzt läuft Martin hier mit einem Verband am Ohr herum. Aus ihm führt ein Schlauch zu einem Fläschchen, in das das Blut aus der Wunde tropft. Martin platziert es neben sein Tablett an den kleinen Tisch im Zimmer, wenn wir schweigend zusammen essen. Das ist nicht schlecht, denn dann habe ich noch weniger Appetit. Er hat auch keinen Hunger. Wegen der Schmerzen. Aber nicht nur deshalb: „Ich esse keinen Käse!“, schnauzt er die Krankenschwestern an. Danach kriegt er immer nur Wurst. Viel Wurst. Männer leiden lauter. Vielleicht lassen sie sich auch nur leichter gehen. Wir drei Patienten im Zimmer sind auf unsere Grundbedürfnisse geschrumpft. Es ist so, wie Lodovico Settembrini in Thomas Manns „Zauberberg“ stets betont: Es liegt nichts Großes in Leid und Krankheit.

Nach fünf Tagen werde ich endlich aus der Klinik entlassen. Die Schmerzen sind noch da, aber ich gelte wohl als stabilisiert. Zu Hause kann ich mir endlich die Zähne putzen, sogar das Haarewaschen wage ich bei lauwarmem Wasser. Am nächsten Tag gibt mir der Arzt bei einer Nachuntersuchung neue Schmerzmittel – es sind die ersten, die wirken. Ich bin euphorisch. Zwei Tage nehme ich sie, dann sind die Schmerzen beim Schlucken so erträglich, dass ich die Chemiekeulen weglasse. Ich kann wieder essen. Einigermaßen.

Meine Frau sagt, Männer seien wehleidig. Und wenn sie Kinder bekommen müssten, wäre die Menschheit schon ausgestorben. Mitleid habe ich aus erzieherischen Gründen von ihr kaum zu erwarten. Ich gebe es bald auf, anderen Leuten am Telefon über meine Schmerzen zu erzählen, solange sie im Zimmer ist. Aber vielleicht hat sie ja recht. Wahrscheinlich bin ich zu weich. Ich bin ja auch ein Mann.

* (alle Namen geändert)