Winds of Change in Washington

Seit gestern haben die Demokraten offiziell die Macht im US-Kongress übernommen. Sie verkünden ehrgeizige Veränderungspläne und einen neuen Willen zur überparteilichen Zusammenarbeit. Letzteres proklamiert auch Präsident Bush

AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF

Noch nie zuvor hat sich ein neuer US-Kongress so gefeiert wie der „110te“. Drei Tage lang hat die neue Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi die anbrechende Ära demokratischer Macht, in erster Linie aber sich selbst gefeiert. In Empfängen, Gottesdiensten, Konzerten und Frauen-Teekränzchen hat sie ihre Biografie und das Novum gefeiert, dass erstmals eine Frau in Washington so mächtig sein wird.

In der Öffentlichkeit spekulieren Kommentatoren unterdessen laut darüber, wie viel Macht die Demokraten mit 31 Sitzen Mehrheit im Abgeordnetenhaus und einem Senatssitz mehr als die Republikaner wirklich haben. Die Republikaner verloren bei der Wahl am 7. November nach 12 Jahren ihre Mehrheit. Vor allem US-Präsident George W. Bush interpretiert das Wahlergebnis als Auftrag zur Zusammenarbeit beider Parteien.

Dass nun tatsächlich ein kooperativerer Wind weht, wurde schon vor den ersten Sitzungsstunden klar. Der demokratische Mehrheitsführer im neuen Senat, Harry Reid, lud Demokraten und Republikaner am Donnerstag zu einer geschlossenen Sitzung ein. Er wollte sich für eine Überwindung der erbitterten Differenzen zwischen beiden Seiten im Senat einsetzen – so etwas hatte es seit einem Jahrzehnt nicht mehr gegeben.

Die Demokraten im Abgeordnetenhaus haben sich viel vorgenommen. Gleich in den ersten hundert Stunden des neuen Kongresses wollen sie eine lange Liste von Initiativen, Änderungen und Reformen abarbeiten. Rasch wollen sie Gesetze zur Anhebung des Mindestlohns und für eine stärkere Unterstützung der Stammzellenforschung verabschieden. Das dürfte nicht weiter schwerfallen. In der Mindestlohndebatte sind sich fast alle einig, dass der seit 1977 eingefrorene Stundenlohn von 5,15 Dollar sofort erhöht werden muss. Auch die Stammzellforschung wird selbst von zahlreichen Republikanern gewünscht. Schwieriger wird es mit dem Plan der Demokraten, die Studiengeldkredite für Studierende zu verbilligen. Das kostet viel Geld. Zudem wollen die Demokraten Steuergeschenke an die Ölindustrie zurücknehmen – um das Geld in die Förderung alternativer Energien zu stecken.

Noch heikler ist das Vorhaben der Liberalen um Nancy Pelosi, sich für mehr Ethik im Kongress stark zu machen. An den Wahlurnen hatten die US-Wählenden laut Umfragen angegeben, dass sie in erster Linie wegen der republikanischen Skandale und Mauscheleien für einen Machtwechsel im Kapitol gestimmt hatten. Bushs neue Gegenspielerin Pelosi will daher Geschenke von Lobbyisten und Reisen von Abgeordneten in Firmenflugzeugen verbieten. Ob die Demokraten stark genug sind, die zunehmend mit dem Lobbyismus verflochtene politische Kultur Washingtons zu revolutionieren, das bezweifeln die Leitartikler der US-Medien noch.

Bush hat die Demokraten zum Auftakt der neuen Legislaturperiode jedenfalls noch einmal eindringlich zur Zusammenarbeit aufgerufen. Parteipolitik müsse hinter gemeinsamen Interessen zurückbleiben, sagte Bush vor der konstituierenden Sitzung des neuen Kongresses. Auch der Präsident hatte am Mittwoch führende Kongressmitglieder symbolisch und versöhnlich zu einem informellen Empfang eingeladen. „Ich fühle mich ermutigt davon, dass Präsident Bush heute sagte, er wolle überparteilich zusammenarbeiten“, sagte der Mehrheitsführer im Senat, Demokrat Harry Reid. „Ich hoffe, er meint es auch so.“

Für die letzten beiden Jahre seiner Amtszeit sieht sich Bush gezwungen, als größtes außenpolitisches Projekt einen Strategiewechsel im Irak und innenpolitisch einen Schuldenabbau zu bewerkstelligen. In beiden Feldern sind die Gräben, die Republikaner und Demokraten trennen, groß: Die Demokraten drängen mit Blick auf die für Dienstag kommender Woche erwartete Irakrede Bushs auf einen klaren Zeitplan zum Rückzug der US-Truppen. Außerdem favorisieren sie eine graduelle Truppenreduzierung und eine baldige Übergabe der Verantwortung an die irakischen Kräfte. Äußerungen Bushs der letzten Wochen ließen hingegen vermuten, der Präsident suche sein Heil zunächst in einer Aufstockung der Truppen.