Frieden provozieren

Expräsident Jimmy Carter hat ein Buch über den israelisch-palästinensischen Konflikt geschrieben, in dem er die Zwangstrennung in den besetzten Gebieten mit der Apartheidpolitik Südafrikas vergleicht. Darüber ist ein Streit entbrannt, der den jüdischen Einfluss in den USA thematisiert

Carter greift auf eine Definition von Apartheid zurück, der sich schon Nelson Mandela und Desmond Tutu in Bezug auf Palästina bedientenVerreißen die großen US-Zeitungen das Buch deshalb, weil sie so engmit jüdischen Interessengruppen zusammenarbeiten?

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Ex-US-Präsident Jimmy Carter, rastloser Friedensaktivist und Publizist, sorgt mit seinem neuen Buch für viel Aufregung in den USA. Genau das wollte der 82-Jährige erreichen, betont er immer wieder, wenn er auf seiner gegenwärtigen Lesetour danach gefragt wird, warum um Himmels willen der Titel seines inzwischen 21. Buches so lautet, wie er lautet. Noch liegt „Palestine Peace Not Apartheid“ nicht auf Deutsch vor, wobei auf alle Interpunktion im Titel bewusst verzichtet wurde.

In dem Buch beschreibt Carter die Geschichte des Nahen Ostens vom 19. Jahrhundert an über das Camp-David-I-Abkommen unter seiner Präsidentschaft bis zur heutigen Situation. Sein Resümee: Israel betreibt eine Politik der Apartheid. Die israelische Umgangsweise mit den Palästinensern gleiche der des südafrikanischen Apartheidregimes mit seinen schwarzen Bürgern, denen es grundlegende Rechte vorenthielt und sie systematisch diskriminierte. Der Ländervergleich wird allerdings nicht detailliert ausgeführt, sondern ist vielmehr eine Zuspitzung von Carters Grundthese.

Jüdisch-amerikanische Intellektuelle und Organisationen sind in höchstem Maße verärgert und schlagen, gleichsam provokant, sowohl mit demonstrativ-sachlicher Kritik als auch mit Polemik zurück. Darüber ist wiederum Carter entrüstet und nutzte einen Leitartikel in der Los Angeles Times, um seinen Ärger über das vermeintliche Meinungsmonopol der „jüdischen Israellobby“ in Washington zu ventilieren. In dem Getöse wird Carter – immerhin der erste US-Bundespolitiker, der sich 1970 gegen die Rassentrennung aussprach, der seit 2002 Träger des Friedensnobelpreises ist und zudem der Architekt des ersten Friedensabkommens im Nahen Ostens war – nun öffentlich als Rassist und Antisemit beschimpft.

David Harris, US-Direktor des einflussreichen American Jewish Comittee, schrieb im Dezember in der Jerusalem Post, Carters Buch sei „abartig betitelt“. Wenig später legte die jüdische US-Organisation Anti Defamation League (ADL) nach. Sie schaltete in allen großen US-Zeitungen Anzeigen, in denen sie Carter aufs Schärfste kritisierte. Falsch sei seine im Buch vertretene Behauptung, die von Israel errichtete Mauer diene als Mittel zur Landnahme palästinensischen Bodens. Eine weitere Anzeige des Committee for Accuracy in Middle East Reporting in der New York Times kurz vor Silvester bezichtigte Carter gar der Lüge und forderte vom Verlag Simon and Schuster eine öffentliche Korrektur des Buches. „Was das ganze Prozedere so schlimm macht, ist die Tatsache, dass Carter ja nicht irgendein Analyst oder Experte ist. Er ist ein früherer Präsident der Vereinigten Staaten“, beklagte sich ADL-Direktor Abraham Foxman in Interviews.

Vor allem wehren sich die Kritiker gegen Carters Vergleich Israels mit dem rassistischen Regime Südafrikas. Diese Darstellung, so Foxman und andere, sei nicht bloß falsch, sie versage Israel zudem das Recht, im legitimen Eigeninteresse und aus Selbstschutz zu handeln. Carter hingegen weist stets darauf hin, dass er auf 189 Seiten von insgesamt 264 darstellt, dass die Zwangstrennung von Palästinensern und Israelis in den besetzten Gebieten nicht rassistisch motiviert sei – sondern der Inbesitznahme von Land folge.

Damit greift Carter auf eine Definition von Apartheid zurück, der sich schon Südafrikas Präsident Nelson Mandela, Bischof Desmond Tutu und andere im Hinblick auf die Palästinenser bedient haben, sekundiert die Politologin Phyllis Bennis vom Washingtoner Institute for Policy Studies. Bennis führt zudem aus, dass die UN bereits 1973 ein entsprechendes internationales Abkommen gegen „Verbrechen der Apartheid“ verabschiedet hätten, um sicherzustellen, dass das System der Unterdrückung und Diskriminierung einer Gruppe durch eine andere überall auf der Welt illegal sei.

Überhaupt geht Carter, der mit seinem Buch „Fakten präsentieren“ wollte, die in den USA „nie in den Presseberichten auftauchen“, in seiner Kritik nicht über das hinaus, was seinerzeit von Israels Premier Jitzhak Rabin oder von israelischen Historikern öffentlich eingeräumt wurde, nämlich die staatliche Diskriminierung israelischer Araber und Palästinenser sowie ethnische Säuberungen bei der Gründung des Staates Israel. Carter geht davon aus, dass ein ehrlich gemeinter, neuer Anlauf für einen Friedensprozess zunächst eine offene Diskussion benötigt. Deshalb sei auch die US-Regierung gefordert, die angesichts der stetig sich verschlechternden Lage im Heiligen Land nur desinteressiert wegschaue.

Vor allem bei ADL hat man Carter nun im Verdacht, dass er mit dem Buch in erster Linie die Unterstützung der USA für Israel unterminieren wolle. Dabei ignoriere Carter willentlich den palästinensischen Terrorismus, die Selbstmordattentate, den Wahlsieg der terroristischen Organsiation Hamas und natürlich die Opfer auf israelischer Seite. So wirft Jeffrey Goldberg, Redakteur des New Yorker, in einer als Buchkritik in der New York Times getarnten Polemik dem ehemaligen Präsidenten vor, aus einer christlich motivierten antiisraelischen Haltung heraus ein „zynisches Buch“ geschrieben zu haben. Carter argumentiere „ahistorisch“, dass die Reaktionen der Palästinenser auf die Landnahme durch Israel „verständlich seien“, hingegen lasse er den arabischen Wunsch außer Acht, Israel von der Landkarte auszuradieren. Dies alles nur, um den Evangelikalen und strammen Israelfreunden im eigenen Land mit Verve vorzuführen, dass die Israelis keineswegs „gottesfürchtige Menschen“ seien – und daher den Schutz der USA nicht verdienten.

Unterdessen schießt Carter mit gleich grobem Kaliber zurück. In einem Gastkommentar in der Los Angeles Times nahm er sich Mitte Dezember die einflussreiche jüdische Lobby vor. Sie beschuldigt er, eine offene und konstruktive Debatte über den Nahen Osten in den USA zu verhindern, weil jüdische Interessengruppen, allen voran AIPAC, das gut vernetzte American Israel Public Affairs Committee, den Diskurs gekidnappt hätten. Es komme für US-Abgeordnete schlichtweg „politischem Selbstmord gleich, eine ausgewogene Haltung zu Israel und Palästina einzunehmen“, so Carter.

Diesen schwerwiegenden Verdacht macht er unter anderem daran fest, dass sich die US-Zeitungen dazu entschlossen hätten, das Buch zu verreißen oder schlichtweg zu ignorieren – obgleich das Interesse bei seinen Lesungen enorm sei. Das ist für Carter wiederum kein Zufall, denn ein Großteil der Zeitungen des Landes arbeite eng mit jüdischen Interessengruppen zusammen, verträte zudem ausschließlich proisraelische Meinungen und lasse Bücher über den Nahen Osten regelmäßig von Journalisten rezensieren, die ebenfalls proisraelisch seien. Damit knüpft der Expräsident an eine ebenfalls turbulente US-Debatte des Frühjahrs 2006 an: Die Politologen John Mearsheimer und Stephen Walt hatten damals die These aufgestellt, dass die USA aufgrund des starken Einflusses der Israellobby in der Außenpolitik bisweilen im Widerspruch zu ihren eigenen Interessen handelten – wofür sie heftig ausgebuht wurden.

Carter, immer das unverwechselbare Lächeln im Gesicht, selbst sagt stets, dass er sich mit seinem Buch „völlig im Frieden befindet“. Gleichwohl spart Carter nicht mit Seitenhieben in Richtung der amtierenden Regierung George W. Bush: Ihr wirft er vor, in den letzten sechs Jahren im Nahen Osten schlichtweg nichts für den Frieden getan zu haben. „Das ist der Hauptgrund, warum sich die moderate arabische Welt von uns abgewandt hat.“ Mit diesem Vorwurf haut Carter in die gleiche Kerbe wie die Schule der Washingtoner Realisten. Die hatte in Person von Exaußenminister James Baker in dem kürzlich vorgelegten „Baker-Report“ ebenfalls einen neuen Friedensprozess in Nahen Osten angemahnt. Die Demokraten um Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi haben sich ihrerseits wiederum von Carter plakativ distanziert: Israelkritik, da hat er offenbar recht, ist in New York und Washington ein ziemliches No-No. Dennoch müssen die Liberalen bald mit Initiativen für den Nahen Osten aufwarten, wenn sie außenpolitische Fehler der Bush-Administration beheben wollen – zumal sich das Irakdebakel immer mehr auf die gesamte Region auswirkt.

Diese Sorge scheinen durchaus viele US-AmerikanerInnen zu teilen. Das zeigt nicht nur der Andrang bei Carters Lesungen – die New York Times führt das Buch bereits unter den Top 5 der US-Bestseller in der Kategorie Sachbuch. Trotzdem ist unklar, ob die Debatte für Carter nicht in die falsche Richtung gehen wird. Seinen Ruf als engagierter, aber unabhängiger Vermittler dürfte er mit dieser Provokation zumindest aufs Spiel gesetzt haben. Douglas Brinkley, der eine Biografie des Expräsidenten schrieb, in der er sich auf die Jahre seit dem Weißen Haus konzentriert, glaubt dagegen, dass der Streit Carters Reputation im Nahen Osten weiter verbessern könne. „Nun wird er in der arabischen Welt eindeutig als jemand gesehen werden, der seine Meinung sagt und nicht die Linie der US-amerikanischen Regierung vertritt. Er wird damit noch nachhaltiger als ein eigenständiger Analyst und Friedensaktivist wahrgenommen werden, in den USA und in Israel kostet das Carter freilich Imagepunkte“, meint Brinkley.

Ein Schaden ist schon entstanden. Im erhitzten Hin und Her kündigte mit Ken Stein ein langjähriger Mitarbeiter des Carter-Zentrums in Atlanta. Das 1982 anstelle der in den USA sonst üblichen Präsidentenbibliothek gegründete Zentrum hat sich, gemeinsam mit der Emory University, ganz der Friedensstiftung, der internationalen Konfliktlösung sowie der Menschenrechts- und Gesundheitsförderung verschrieben. Stein war der erste Direktor und diente Carter über Jahre als Berater in Fragen des Nahen und Mittleren Ostens. In einem Interview zitierte Stein eine Passage, die besagt, dass Araber und Palästinenser deutlich machen müssten, dass sie Selbstmordanschläge und andere terroristische Akte beenden werden, sobald die Israelis internationale Gesetze und die Ziele der Roadmap für den Frieden akzeptierten. „Soll das etwa heißen, dass es legitim ist, bis dahin Juden umzubringen? Habe ich das falsch interpretiert?“, fragte Stein. „Wenn Carter das schreibt, dann heißt er insgeheim Gewalt gut. Ich bezweifle, dass das die ursprüngliche Daseinsberechtigung des Carter Centers ist.“