„Das Pflegepersonal vollstreckt nur“

Einer Studie zufolge erhalten über die Hälfte der Bewohner der Hamburger Pflegeheime Psychopharmaka. Ein Gespräch mit der Mit-Autorin Gabriele Meyer über den Umgang mit freiheitseinschränkenden Medikamenten und die Alternativen

INTERVIEW: FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Frau Meyer, Ihre Studie hat ergeben, dass die Hälfte der Bewohner von Hamburgs Pflegeheimen Psychopharmaka erhalten – hat Sie das überrascht?

Gabriele Meyer: Nein. Das habe ich erwartet, weil wir das aus vorher publizierten Studien schon kannten. Man hätte annehmen können, dass die Rate inzwischen durch diese Veröffentlichungen etwas gesunken wäre – aber das war nicht der Fall. Die Heimbewohner sind nach wie vor überversorgt mit psychotropen Medikamenten, also solchen, die auf die geistige Verfassung und das Gemüt wirken.

Was für Medikamente werden vor allem verabreicht?

Das sind Antipsychotika, angstlösende Medikamente, Hypnotika, also Schlafmittel, und Antidepressiva.

Wer ist verantwortlich für die Vergabe?

Für die Vergabe das Pflegepersonal, aber für die Verschreibung die Ärzteschaft. Es ist Dauermedikation, die täglich verabreicht wird, über die ich hier spreche. Daneben gibt es Bedarfsmedikation, die auch nach Anordnung des Arztes, aber nach Ermessen des Pflegepersonals verabreicht wird, wobei sich bei unserer Studie gezeigt hat, dass die relativ selten gegeben wird.

Wie erklären Sie sich die Verschreibefreudigkeit der Ärzte, in diesem Fall der Neurologen?

Wir sind in den Pflegeheimen konfrontiert mit einer sehr großen Zahl von Bewohnern, die geistig verwirrt sind. Wir wissen aus unserer und anderen Untersuchungen, dass bis zu 60 Prozent der Bewohner schwerste Verhaltensauffälligkeiten zeigen: Zum Teil Schreien, Schlagen oder mit Gegenständen werfen. Und da es an vernünftigen Ansätzen fehlt, mit diesen Verhaltensauffälligkeiten umzugehen, oder sie nicht umgesetzt werden, behilft man sich mit diesen Medikamenten. Auch wider besseren Wissens.

Wider besseren Wissens?

Aus Studien weiß man, dass die Wirksamkeit dieser Medikamente sehr begrenzt ist. Sehr gut Bescheid weiß man inzwischen über die schweren Nebenwirkungen. Zum Beispiel erhöhte Schlaganfallraten durch Antipsychotika. Da ist insgesamt ein Umdenken angesagt.

So lange es Kinder betrifft, zum Beispiel beim so genannten Hyperaktivitätssyndrom, hört man ja kritische Stimmen, was die – alleinige – Behandlung mit Psychopharmaka betrifft. Warum bleibt das bei den alten Menschen aus?

Das ist ein schwieriger Bereich, weil wir im gleichen Zug umsetzbare Gegenvorschläge machen müssten, wie wir mit den Problemen in den Heimen umgehen wollen. Und die stehen bislang aus. Erst einmal gälte es, zu zeigen, dass, wenn man die Medikamente wegließe und eine entsprechende psychosoziale Betreuung anböte, zu gleichen oder besseren Ergebnissen käme.

Und vermutlich teureren.

Das vermute ich eben nicht. Denn die Medikamente gerade der neueren Generation sind sehr, sehr teuer. Dieses Geld könnte man auch in eine intensivierte Betreuung durch qualifiziertes Personal umsetzen. Und es gibt Hinweise in der Forschungsliteratur, dass man die Neuroleptika dann zumindest reduzieren kann.

Ist die Gabe von Psachopharmaka bei den oft dementen Bewohnern nicht rein rechtlich problematisch?

Ich würde einige dieser Medikamente, die die Bewohner ruhig stellen sollen, in der Kategorie der freiheitsentziehenden Maßnahmen einordnen, die nur mit Legitimation durch ein Gericht oder der Zustimmung des Betroffenen vergeben werden dürften.

Hat das Pflegepersonal in den Hamburger Häusern die Vergabe der Psychopharmaka als problematisch empfunden?

Ich hatte nicht den Eindruck. Ich glaube auch nicht, dass das als pflegefachlicher Aufgabenbereich empfunden wird. Die Ärzte ordnen an und das Pflegepersonal vollstreckt nur. Ich glaube nicht, dass bislang vorgedrungen ist, dass Pflegekräfte selbst Einfluss darauf nehmen können, indem sie das Gespräch mit den Ärzten oder Angehörigen suchen.

Wie groß sind die Unterschiede in der Medikamentengabe zwischen den einzelnen Heimen, die Sie untersucht haben?

Wir haben eine große Varianz gesehen. Der Anteil der Bewohner, die mindestens ein Psychopharmakon erhielten, reichte von 30 bis 80 Prozent. Bei den mechanischen freiheitseinschränkenden Maßnahmen wie Bettgittern variierte der Anteil sogar zwischen vier und 60 Prozent. Das ist wohl ein hauskulturelles Phänomen.

Kann man sagen, dass umso weniger freiheitseinschränkende Maßnahmen angewandt werden, je besser das Haus geführt wird?

Was ist besser? Kürzlich stand im Spiegel ein Artikel über ein Heim, das es abgelehnt hatte, eine Frau zu fixieren, die dann mehrfach gestürzt ist. Es kommt darauf an, ob ein Haus alle Stürze, auch auf Kosten der Freiheit, vermeiden will – auch wenn man eigentlich weiß, dass die Leute trotz Bettgittern und Gurten nicht weniger stürzen.

Versprechen Sie sich eine Verbesserung der Situation durch die Bewegung hin zu kleineren, intensiver betreuten Pflegeeinheiten wie in den Demenz-WGs?

Die großen Heime scheinen ja nicht die richtige Unterbringungsform zu sein für eine Gruppe, die nicht so sehr eine medizinische Aufmerksamkeit braucht, sondern menschliche Zuwendung. Aber der Bereich Pflegeheim ist ein so großer Markt, dass ihn niemand abgeben möchte. Und die Mediziner haben in den letzten Jahren die Pflegeheime für sich entdeckt. Aber es gibt auch viele Initiativen, die in eine neue Richtung gehen – wie zum Beispiel die Bremer Heimstiftung, die sehr aktiv dabei ist von den klassischen, Alten- und Pflegeheimen wegzukommen und stärker einen Wohn- und Betreuungscharakter zu schaffen.