Messias made in USA

Wird 2007 das Jahr der Mormonen? Sie sind bei Republikanern und Demokraten einflussreich. Nun will ihr Aushängeschild Mitt Romney, bisher Gouverneur von Massachusetts, US-Präsident werden

Das größte Interesse der Mormonen bleibt indessen die Errichtung des Königreichs Gottes auf Erden

VON SEBASTIAN MOLL

Gordon B. Hinckley, der 96 Jahre alte oberste Prophet und Vorsteher der mormonischen Weltkirche, wird von seinem Heim in Salt Lake City aus die Nachrichten der vergangenen Tage mit Freude verfolgt haben. Der Jahresbeginn 2007 war für seine 12,5 Millionen Menschen umfassende Organisation überaus gelungen: Zuerst schaffte es der zum Jahreswechsel scheidende Gouverneur von Massachusetts, der Mormone Mitt Romney, seinem Heimatstaat eine Volksbefragung zu hinterlassen, mit der die erst 2004 legalisierte Schwulenehe wieder in Frage gestellt wird. Nur einen Tag später, am Donnerstag, wurde in Washington der mormonische Senator Harry Reid aus Nevada als Anführer der demokratischen Mehrheit im US-Senat vereidigt. Und das war nur der Startschuss zu einer politischen Saison, in der die immer mächtiger werdenden Mormonen erstmals in ihrer Geschichte deutlich sichtbar die nationale politische Bühne Amerikas betreten werden.

In den nächsten Tagen will Romney offiziell seine Präsidentschaftskandidatur für 2008 bekannt geben. Die Entscheidung ist wohlbedacht: Romney gilt als fähig, die religiöse Rechte und die moderaten Kräfte in der republikanischen Partei hinter sich zu vereinen. Außerdem ist er gut aussehend, dynamisch und charismatisch. Er verfügt als ehemaliger Unternehmer über beträchtliche finanzielle Ressourcen sowie über ein gutes Netzwerk von einflussreichen und finanzkräftigen Sympathisanten – Letzteres auch dank seiner Glaubenszugehörigkeit.

Sollte Romney es tatsächlich bis nach Washington schaffen, wird er sich dort bestimmt nicht einsam fühlen. Die US-Hauptstadt mit ihren unzähligen Regierungsbehörden und politischen Organisationen ist seit langem dicht mit den Mitgliedern jener Sekte bevölkert, die noch vor 160 Jahren so lange in Richtung Westen vertrieben wurde, bis sie nach Jahrzehnten der Wanderschaft in der Wüste von Utah endlich unbehelligt ihren skurrilen Glauben ausüben konnte. In einem breiten Tal am Fuße des Wasatch-Gebirges legte ihr Anführer Brigham Young, Nachfolger des zuvor in Illinois ermordeten Sektenanführers John Smith, 1847 den Grundstein zu Salt Lake City – der heutigen Welthauptstadt des Mormonentums. Die offizielle Mormonenkirche – die Church of Latter Day Saints oder kurz LDS – hat hier ihren Sitz in der Stadtmitte in einem großräumigen Tempelbezirk rund um eine pompöse pseudo-gotische Kathedrale.

Heute stehen die Mormonen für die Mitte der US-Gesellschaft und setzen sich deshalb auch zunehmend im politischen Mainstream durch: Neben Reid stellen sie die Senatoren Orrin Hatch und Robert Bennett. Der Mormone Mike Leavitt ist im Kabinett Bush für das Gesundheitswesen zuständig. Wichtige Posten im Außen- und im Finanzministerium sind von Mormonen besetzt; sie führen die Rechtsabteilung im Weißen Haus und sie beraten den Kongress in internationalen Angelegenheiten, in der Frage der freien Religionsausübung sowie bei der Bildungsreform. Die Anzahl der Mormonen beim Geheimdienst CIA ist laut der unabhängigen Salt Lake Tribune „unverhältnismäßig hoch“ – nicht zuletzt weil die Mormonen ihrer obligatorischen Missionarstätigkeit im Ausland wegen besonders gut Fremdsprachen sprechen. Und nur ein paar hundert Meter vom Weißen Haus entfernt unterhält die mormonische Kirche ein „Büro für öffentliche Angelegenheiten“.

Offiziell hat die Church of Latter Day Saints das PR-Büro eingerichtet, um die „Sichtbarkeit“ der Religionsgemeinschaft zu erhöhen und um Vorurteile abzubauen, wie LDS-Sprecher Dale Bills sagt. Die Mormonen wollen nicht mehr als hinterwäldlerische Fundamentalisten wahrgenommen werden und unterstreichen deshalb den Unterschied zwischen der LDS und polygamistischen Splittergruppen, die noch immer das Bild in den Medien bestimmen. Mit diesen Sekten in Süd-Utah, Colorado und Nevada, in denen Clan-Anführer in der Weite des Westens totalitäre Mini-Regime führen, will die LDS nichts zu tun haben. Seit Utah 1890 offiziell nach einem Ultimatum aus Washington die Polygamie abgeschafft hat, ist man in Salt Lake City betont darum bemüht, sich mit dem amerikanischen Mainstream zu arrangieren. 1978 wurden sogar Schwarze als Mormonenpriester zugelassen – obwohl in der mormonischen Mythologie die dunkelhäutigen „Lamaniten“ Dämonen sind. Dass das LDS-Büro in Washington neben der Imagepflege auch zur politischen Strategiebildung genutzt wird, leugnen die Mormonen vehement.

Die LDS möchte unter allen Umständen vermeiden, als politische Lobbygruppe in Erscheinung zu treten. Die offizielle Linie der Kirche ist politische Neutralität: „In Dingen der Regierung und der Politik ist die Kirche institutionell neutral“, so Bills. Als Beweis für ihre Unabhängigkeit führen die gemeinhin als ultrakonservativ verschrienen Mormonen gerne das Beispiel von Reid ins Feld, der zwar jeden Sonntag den Tempel besucht, sich jedoch als Fraktionschef der Demokraten im Senat so offen mit George Bush angelegt hat wie kein anderer Abgeordneter. Er sei ein „Lügner und Verlierer“, beschimpfte Reid den Präsidenten im Plenarsaal und nahm später nur den zweiten Teil seiner Aussage zurück.

Reid steht zwar in Dingen wie der Abtreibung und der Schwulenehe rechts, besetzt jedoch in sozialpolitischen Angelegenheiten klassische demokratische Positionen. In seiner Partei wird er indes vor allem wegen seiner hartnäckigen Gegnerschaft zu Bushs Irak-Politik geschätzt. Tatsache ist allerdings, dass Mormonen sich in der überwiegenden Mehrheit bei den Republikanern besser aufgehoben fühlen als bei den Demokraten: Bei der letzten Präsidentschaftswahl bekam Bush im Mormonen-Staat Utah 70 Prozent der Stimmen, mehr als irgendwo sonst in den USA. Eric Samuelson, ein Schriftsteller aus Salt Lake City, sieht zwar selbst in Utah einen wachsenden Unmut gegenüber der jetzigen Irak-Politik. Trotzdem seien die Demokraten für Mormonen wegen „moralischer Themen keine Alternative“. Und auf Moral, so Samuelson, komme es der religiösen Gemeinschaft in erster Linie an. Immerhin hat LDS-Chefprophet Hinckley jüngst eine Proklamation verfasst, in der die Ehe zwischen Mann und Frau und der natürliche Weg der Fortpflanzung als Gottes Wille deklariert wurde.

Es gibt allerdings nicht wenige Experten, die den Mormonen ihr Desinteresse an Parteipolitik, ihre scheinbar vollständige gesellschaftliche Integration sowie ihre alleinige Sorge um die Moral nicht abkaufen. Im Gegenteil: Damon Linker, Autor von „Secular America under Siege“ (Die Belagerung des säkularen Amerikas), glaubt, dass Moral in der Community überhaupt keine Rolle spielt. „Im mormonischen Glaubenssystem kann es gar keine verbindliche Moral geben. Alles, was Mormonen über Recht und Unrecht wissen, stammt nicht aus Texten, sondern aus Geboten, die direkt von Gott empfangen werden.“ Und davon kann es praktisch täglich neue geben. Denn anders als im traditionellen Christentum wandeln die mormonischen Propheten bis heute unter uns und empfangen munter weiter Botschaften von oben. Folglich gilt als Gesetz, was immer Hinckley aufgrund seiner Eingebungen befiehlt.

Tatsächlich gab bei einer Umfrage an der mormonischen Brigham-Young-Universität in Salt Lake City eine Mehrheit der Studenten zu Protokoll, dass sie im Namen des Propheten ohne zu zögern einen Mord begehen würden. „Der Gedanke, dass man seine eigene Intelligenz oder sein eigenes moralisches Empfinden dazu nutzt, die Weisungen der Propheten in Frage zu stellen“, schreibt Linker, „taucht im begrifflichen Universum der Mormonen nicht auf.“ Eine Tatsache, die sich die selbsternannten Propheten in den fundamentalistisch-polygamistischen Gemeinden im Hinterland skrupellos zunutze machen, um ihre Gewaltherrschaft über ihren Harem sowie über die gesamten vom Rest der Welt abgeschnittenen Ortschaften auszuüben.

Ein größeres Interesse als an der Moral, so Linker, hätten die Mormonen an der Errichtung des Königreichs Gottes auf Erden. Laut offiziellem Dogma steht die Wiederkehr Christi auf die Erde kurz bevor und damit der Beginn seiner 1.000-jährigen Weltherrschaft. Daran, dass diese Herrschaft von Amerika ausgehen wird, lässt die Bibelinterpretation der LDS ebenfalls keinen Zweifel. „Der Jesus, der das mormonische Millennium regieren wird, ist ein amerikanischer Jesus“, schreibt der Kulturkritiker Harold Bloom in seinem Buch „The American Religion“ über die Mormonen. Und weiter: „Keine religiöse Bewegung in Amerika ist so ehrgeizig wie die Mormonen. Sie streben ernsthaft an, erst die Nation und dann die ganze Welt zu konvertieren. Sie wollen aus ihren zwölf Millionen Seelen sechs Milliarden machen.“

Dass sich Romney für den Herscher des 1.000-jährigen Reiches hält, erscheint weit hergeholt. Befürchtungen, er könne ein „Manchurian Candidate“ sein – eine von den Kirchenoberen hypnotisierte und ferngesteuerte Marionette –, halten sich in den USA jedoch hartnäckig. So deckte der Boston Globe jüngst auf, dass es unter dem Namen „Mutual Values and Priorities“ (gemeinsame Werte und Prioritäten) ein nationales Netzwerk von Mormonen gibt, das den Wahlkampf von Romney finanziert und unterstützt. Obwohl dies amerikanischen Gesetzen zur Trennung von Kirche und Staat widerspräche und die LDS bei Bestätigung des Verdachts gar ihre Steuerbefreiung verlieren würde, hat Romney die Existenz des Netzwerks nicht eindeutig dementiert. „Selbstverständlich wende ich mich bei der Wahlkampffinanzierung an meine Bekannten“, sagte er, auf einflussreiche Ex-Kommilitonen von der Mormonenuniversität Brigham Young angesprochen, die angeblich hinter dem Netzwerk stehen.

Ebenso ausweichend hat sich Romney bislang über den Einfluss seines Glaubens auf die von ihm betriebene Politik geäußert. „Die Werte, die mein Glaube mir mitgibt, sind uramerikanische Werte wie die Familie und der Glaube an Jesus Christus“, wiegelte er ab. Ob er die Unterwäsche mit den aufgestickten Geboten der LDS trägt, wie die Kirche dies vorschreibt, wollte er nicht beantworten, weil dies „Privatsache“ sei. Tatsache ist allerdings, dass er sich in letzter Zeit wesentlich eindeutiger zu seiner konservativen sozialen Agenda bekennt, als er dies etwa in seinem Wahlkampf für den Gouverneursposten im liberalen Massachusetts seinerzeit getan hat. Sicherlich gehört dies zur Strategie, die religiöse Rechte in der republikanischen Partei auf seine Seite zu ziehen. Aber es wirft auch die Frage auf, in wen oder was Romney sich wohl verwandelt, wenn er erst ins Weiße Haus gewählt wird.