Wie man Desinformation produziert

Der britische Autor William Boyd vermischt Fiktion und Fakten und vergegenwärtigt in seinem heute erscheinenden Roman „Ruhelos“ einen interessanten Aspekt der Spionagegeschichte des Zweiten Weltkriegs. Eine Art Gegenbuch zu Philip Roth’ „Verschwörung gegen Amerika“

Boyd zeigt, dass Nachrichten niemals neutral sind

VON JÖRG MAGENAU

Die erste Regel, die ein Spion in der Ausbildung zu lernen hat, lautet: „Traue niemandem!“ Das ist mehr als bloß eine Dienstanweisung. Es erfordert die Einübung in eine andere, einsame Existenzweise, in dauernde Selbstkontrolle und lauernde Wachsamkeit. Ein Spion hat keine Freunde. Der britische Autor William Boyd ist fasziniert von dieser besonderen Lebensart und wollte deshalb unbedingt einmal einen Spionageroman schreiben – vielleicht auch deshalb, weil der Beruf des Schriftstellers damit manche Gemeinsamkeit aufweist.

Boyd, 1952 im westafrikanischen Accra geboren, hat sich in seinen Bücher darauf spezialisiert, Fiktion und Realgeschichte kunstvoll miteinander zu verschränken. Mit „Die neuen Bekenntnisse“ legte er die Autobiografie eines fiktiven Filmregisseurs vor, die so echt wirkte, dass man geneigt war, im Lexikon nach ihm zu suchen. „Eines Menschen Herz“ war das Tagebuch eines erfundenen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, der mit Größen wie Picasso, Hemingway oder Virginia Woolf zusammentraf. „Ruhelos“ ist nun ein Thriller, der vor dem Hintergrund der Geschichte des britischen Geheimdienstes in den Jahren 1939 bis 1941 spielt. Boyds literarisches Verfahren, Fiktion und Fakten zu vermischen, findet in diesem Stoff eine operative Entsprechung. Großbritannien bemühte sich verzweifelt und mit allen nachrichtendienstlichen Tricks darum, die Amerikaner in den Krieg gegen Deutschland hineinzuziehen. Hitler feierte seine großen militärischen Triumphe: Frankreich war besiegt, Europa besetzt, der Vormarsch im Osten führte bis kurz vor Moskau. England stand alleine gegen diese Übermacht, und die USA zögerten.

Philip Roth hat mit dem 2005 erschienenen Roman „Verschwörung gegen Amerika“ die Möglichkeit durchgespielt, was hätte passieren können, wenn die amerikanischen Isolationisten zusammen mit der antisemitischen Organisation „America First“ die Oberhand gewonnen hätten und der Hitler-freundliche Charles Lindbergh zum Präsidenten gewählt worden wäre. Boyds „Ruhelos“ ist eine Art Gegenstück dazu – keine Fiktion, sondern gut dokumentierte Geschichte. Mehr als 3.000 Mitarbeiter der BSC (British Security Coordination) waren damit befasst, Falschmeldungen zu lancieren, die eine zunehmende Bedrohung der USA suggerieren und die Deutschen verunsichern sollten. Mitten in Manhattan unterhielten sie eine gut ausgestattete Redaktion, doch ihre Nachrichten versuchten sie überall in der Welt in die Medien einzuspeisen, damit sie von dort aus von amerikanischen Agenturen als authentisch übernommen werden konnten.

Die BSC arbeitete wie eine richtige Nachrichtenagentur, und Boyd schildert minutiös, wie diese Desinformations-Agenturen funktionierten. Er zeigt, dass Nachrichten niemals neutral sind. „Wenn sie auch nur zur Hälfte geglaubt wurden, führten sie zu allerlei kleinen Veränderungen – zu einer Kettenreaktion mit unabsehbaren Folgen“, sagt der oberste Agent des Romans. Die Regel „Traue niemandem“ gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Meldungen – eine Erfahrung, die hier am historischen Beispiel vorgeführt wird, die aber von bleibender Aktualität ist.

Ein Meisterstück der BSC-Fälschungen ist eine Karte Südamerikas, auf der die Nazis festlegen, wie sie den Kontinent neu aufteilen werden. Die zukünftigen Fluglinien der Lufthansa sind darauf eingezeichnet, und der Panama-Kanal gehört zum deutschen Hoheitsgebiet. Selbst Präsident Roosevelt fiel auf diesen Fake herein und ging darauf in einer Rede ein. In Boyds Story steht sie im Mittelpunkt einer gefährlichen Aktion. Von hier aus führt der Verrat in viele Richtungen. Doch entscheidend für den Kriegseintritt der USA ist schließlich nicht die Arbeit des BSC, sondern der japanische Angriff auf Pearl Harbor. Die Anstrengungen, mit Intrigen, Lügen, Mord und Erpressung am Rad der Geschichte zu drehen, waren damit überflüssig. So steht am Ende die Einsicht, „wie unbedeutend und kleinkariert das alles war, wenn es ums ‚große Ganze‘ geht“.

Die Story, die Boyd um diesen historischen Kern herum entwirft, beginnt im Sommer 1976. Die Ich-Erzählerin Ruth Gilmartin fährt von Oxford aufs Land, um ihre Mutter zu besuchen. Die alte Dame wirkt verwirrt und fühlt sich verfolgt. Schließlich offenbart sie ihrer fassungslosen Tochter, dass sie in Wirklichkeit nicht Sally Gilmartin heißt, sondern Eva Delektorskaja. Kapitelweise überreicht sie der Tochter ihre Lebensgeschichte als Spionin, die schließlich erst auf der Gegenwartsebene ihre Auflösung findet. Doch die gelernte Spionin ist nicht mehr aus ihrer Isolation des Misstrauens zu befreien. Hatte sie ihre Tochter in der Kindheit damit beunruhigt, dass eines Tages jemand kommen werde, um sie abzuholen, so steht sie am Ende des Roman mit einem Fernglas am Fenster, um den nahen Waldrand nach Verdächtigem abzusuchen – ruhelos. Es ist der Tod selbst, vor dem sie sich fürchtet. Der Roman lässt sich nicht nur hier auch als Gleichnis auf die menschliche Existenz lesen.

So stark, so spannend und so überraschend die Spionagegeschichte sich entwickelt, so unterbelichtet bleibt die Gegenwartsebene mit der Lebensgeschichte der Tochter Ruth. Das wirkt ein wenig lustlos, als habe Boyd sich dafür nicht wirklich interessiert. Ruth war mit einem Deutschen verheiratet, dessen Bruder sie nun in Oxford beherbergt. Angeblich hat er Beziehungen zur RAF, die Polizei ist hinter ihm und seiner Freundin Ilse her. Boyd wollte wohl dem Kampf der Mutter gegen Hitler-Deutschland eine Deutschland-Entsprechung auf der Gegenwartsebene entgegenstellen. Doch das bleibt unausgeführt. Geschichte wird hier bloß noch zitiert, um des Effektes willen. „Ruhelos“ hätte ohne diese Schwäche ein großartiger Roman werden können.

William Boyd: „Ruhelos“. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Berlin Verlag, Berlin 2007, 366 Seiten, 22 €