ACHTELFINALE DEUTSCHLAND – ALGERIEN IM „CHEZ RALLÉ“
: Soccer Moms und böse Buben

VON ULI HANNEMANN

Die Sonne brennt. Zahllose Kinder wuseln um elegante Mütter herum oder bolzen auf dem Sportplatz des SV Blau-Weiss, ungeachtet des Geschehens auf dem Riesenbildschirm vor dem Vereinslokal. Väter mit nicht mehr altersgemäßen Truckermützen trinken heimlich Bier. Bei jedem Tor werfen zwei schrankartige Amateurkicker Böller auf den Kunstrasen. Dann zucken die Soccer Moms zusammen und Wirt Ralle, der milde Sachwalter dieser erfreulichen Einrichtung, lächelt freundlich.

So war das im Spiel gegen Portugal. An diesem Abend spielt jedoch Algerien und es herrscht schlechtes Wetter. In der Kombi mit der späteren Anstoßzeit findet sich ein anderes Publikum. Nur noch wenige Kinder und Väter, die Mütter sind bereits im Bett oder in der Weinstube. Vereinsmitglieder, ein paar Gäste. Auch wir, meine Sportskameraden und ich, sind ein Teil dieses Clashs der Kulturen. Denn jeden Montag trifft sich hier die D-Riege des deutschen Schrifttums, um sich an etwas zu probieren, das sie sogar noch schlechter beherrscht als das Schreiben: Fußballspielen.

Die Stimmung ist zunächst gedämpft, Begeisterung sucht man vergeblich. Muss ja auch nicht. Eine Ausnahme bildet ein mittelaltes Paar. „Wat is’n dit für ne Muschi?“, schreit die Frau, als Thomas Müller versucht, den Ball zu kontrollieren anstatt blind draufzunageln.

Später gibt es Misstöne, denn Sportskamerad F. muss den Partner der Muschi-Frau energisch bitten, nicht jeden Algerier „Affe“ zu nennen. Ich habe das gar nicht mitbekommen. Merkwürdig, dass sich nach so einer hochnotwendigen Aktion alle Beteiligten unbehaglich fühlen. Kurz darauf ist das Paar verschwunden.

Ich tränke zu schnell, merkt Sportskamerad W. an. Das finde ich nicht. Ich finde stattdessen, er könnte sich langsam mal wieder eigene Kippen kaufen. Eine kurze Schnorrphase sei ja jedem im Übergang vom Nicht- zum Wiederraucher gegönnt, doch alles hat seine Grenzen.

Grenzenlos genial ist allerdings die Vorbereitung des deutschen Führungstreffers von reichlich langer Hand: Bei einem Freistoß hoppelt die halbe Elf wie Häschen über den Ball, der vorletzte, Müller, stolpert und beißt ins Gras, der letzte, Kroos hebt die Kugel ins Nirwana. Alle lachen. Und auch die Algerier im fernen Brasilien verlieren den Respekt, den Ernst und damit die Konzentration. Die Folge ist Schürrles Tor in der Verlängerung. Müller hat es vorbereitet, diesmal von kurzer Hand. Das sind eigentlich zwei Scorerpunkte.

Der Jubel ist überraschend laut. Noch so viele da, noch so viele wach. Ich patsche nur einmal vornehm in die Händchen, weil jeder, der für Deutschland schreit, für mich ein absoluter Nazi ist. Also jetzt nicht absolut, aber doch schon so irgendwo zwischen SPD und Grüne. Heute gibt es keine Böller, es sind keine bösen Buben da, und außerdem ist es zu nass.

Özil macht den Sack zu. Das Spiel ist aus. Wir gehen nach Haus. Rabimmel, rabammel, rabumm.

Heimmannschaft: Vereinsmitglieder und Familie. Amateur- und Hobbyfußballer.

Gästeblock: Anwohner, Passanten und Neugierige sind willkommen.

Ersatzbank: Für Frostbeulen auch drinnen. Solange Kinder da sind, Rauchverbot.

Rote Karte: Der sportplatzeigene Fuchs lässt sich bei Lärm nicht blicken.

Stadionimbiss: Ralles Mutti grillt Steaks und Würste.

Vereinslokal SV BW Berolina Mitte, „Chez Rallé“, Kleine Hamburger Straße