Die Verwandlungen

Der lettische Regisseur Alvis Hermanis lässt Diebe in das Leben einer Russin der 30er-Jahre einbrechen. Dass das auch ohne Gewalt geht, zeigt sein Abend „Sonja“ im HAU

Zwei bullige Typen mit Nylonstrümpfen über dem Gesicht haben sich Einlass verschafft. Sie tragen karierte Plastiktaschen über den Schultern und beginnen routiniert, die Wohnung zu durchsuchen: öffnen Schubladen, durchwühlen den Wäscheschrank. Doch dann ist es um sie geschehen. Einer blättert plötzlich in den Fotoalben, der andere nascht Marmelade, das Grammofon wird angeworfen. Nicht die Einbrecher schnappen die Beute, sondern die Dinge scheinen von ihnen Besitz zu nehmen. Ein kurzes Ringen mit dem hellblauen Damenkleid, dann ist es übergezogen, die Schleife gebunden, das Rouge aufgelegt. Während der eine Einbrecher über sich selbst staunt und sich in eine Bewohnerin Leningrads der 30er-Jahre verwandelt, beginnt der zweite Einbrecher ihre, Sonjas, Geschichte zu erzählen.

Und auch diese Geschichte ist eine der Verwandlung. Sie basiert auf der Kurzgeschichte „Sonja“ der russischen Schriftstellerin Tatjana Tolstaja. In der schreibt eine gemeine Clique der einsamen und beschränkten Sonja einen fiktiven Liebesbrief. Sonja schreibt entflammt zurück. Der Briefwechsel zieht sich über Jahre. Die verliebte Sonja ist der glücklichste Mensch der Welt, die Spaßvögel schreiben längst nur noch aus wütender Pflicht – so können sich die Dinge wenden.

Wenn auf der Bühne die letzte Wendung erzählt ist, erwachen die beiden Einbrecher wie aus einem zauberhaften Traum, packen ihr Diebesgut zusammen und machen sich davon. Auch als Zuschauer muss man jetzt wieder in der russischen Gegenwart ankommen: X-beliebige Diebe waren das, ja. Aber nach dem Matroschka-Puppen-Prinzip stecken symbolisch noch andere Einbrecher in ihnen, auch die Figur des Regisseurs selbst, der in eine Geschichte wie Tolstajas „Sonja“ einbricht, sich darin umschaut und reiche Beute macht.

Mehr noch als andere Inszenierungen des erfolgreichen lettischen Regisseurs Alvis Hermanis ist „Sonja“ ein Abend über das Geschichtenerzählen selbst, über die Kraft der Fiktion und birgt einen verdichteten Zugriff auf Realität, wie man das von Hermanis kennt. Vier Gastspiele waren bisher am HAU von ihm zu sehen. In „Long Life“ zum Beispiel verwandelten sich die jungen Schauspieler eines Rigaer Theaters in die Bewohner einer Senioren-WG. Für „Lettische Geschichten“ begleiteten die Schauspieler jeweils einen Monat lang Kindergärtnerinnen, Soldaten, Computerfachleute und studierten deren Leben.

Mit dem Schauspieler Gundars Abolins schlüpft jetzt in „Sonja“ ein Mann in die Rolle einer Frau. Sich zu schminken, ein Huhn mit Apfelschnitzen zu füllen oder die Puppensammlung zu ordnen – solche Handgriffe erledigt er ohne jede aggressive Tuntigkeit, sondern mit einer ganz eigenen Präzision, die vielleicht daher rührt, dass sie ihm als Mann so fremd sind. Großartig das Bühnenbild von Kristine Jurjane: eine Wohnung, auf russischen Flohmärkten zusammengesucht. Ein Bauernschrank, ein alter Holzherd und Küchenschränke aus Großmutters Zeiten, dazu Emaillekrüge, Keramikdöschen, alte Stickdecken.

„Das, was man wirkliches Leben nennen könnte, spielt sich zuhause in Privaträumen ab. Dort wird ein Teil des Menschen sichtbar, der außerhalb immer verborgen bleibt. Der Blick ins Private ist aber auch immer ein Einbruch in ein Leben“, sagt Alvis Hermanis. Doch er macht aus diesem Einbruch keinen gewaltsamen Akt. Schaut in die alte Wohnung wie in ein Märchenreich. Findet die richtige Schwebe zwischen dem Bericht über einen Menschen und der gestischen Verkörperung seiner Existenz und erzählt viel über das, was die Zeit verändert. SIMONE KAEMPF

Heute & morgen, HAU 2, jew. 20 Uhr