Diese rasante Beschleunigung

PANORAMEN Der Wunsch nach dem Überblick: Miao Xiaochun in der Guardini Stiftung und Ulu Braun bei Olaf Stüber zeigen eine seltsam komponierte Gegenwart im Panoramaformat von 180 Grad

Zufall, dass auch ein anderer Künstler mit Panoramabildern an die Öffentlichkeit tritt

VON RONALD BERG

Die seltsame Figur passt irgendwie nicht richtig ins Bild. Zwar ist sie nur von hinten zu sehen, aber ihr bodenlanges Gewand und der künstliche Haarknoten genügen, um ihre Fremdartigkeit an jenem Ort zu bezeichnen, den die Fotografie wiedergibt. Die Gestalt steht unterhalb der Herkules-Pyramide in Kassel direkt in der grandiosen barocken Achse, die talwärts über die vorgelagerten Wasserspiele und das Schloss Wilhelmshöhe in die Stadt hinunterführt.

Wer ist dieser fremde Besucher, der sich so aufgestellt hat, so als wolle er die Fluchtpunktperspektive ausprobieren, womit das abendländische Subjekt sich den Raum unterwirft? In der Guardini Stiftung kann man der fremdartigen Figur derzeit sogar leibhaftig begegnen. Zwar ist der Mann mit dem langen Gewand, dem Bambusstab, Spitzbart, Haarknoten und Schlitzaugen nur aus Fiberglas, aber nun wird er als Besucher aus dem alten China besser erkennbar. Der 46-jährige Miao Xiaochun, Professor für Fotografie an der Akademie der Schönen Künste in Peking (Beijing), hat der Figur seine eigenen Gesichtszüge gegeben, Kleidung und Accessoires machen die Gestalt aber als Gelehrten konfuzianischer Prägung aus alter Zeit kenntlich. Exotik und surreale Präsenz der Figur fallen selbst dann noch ins Auge, wenn Miao Xiaochun sie im heutigen China fotografiert, etwa wenn der Gelehrte auf der Großen Mauer erscheint oder in einem Pekinger Restaurant unter vielen anderen Besuchern zu Tisch sitzt.

Miao Xiaochun geht es in seiner Kunst eigentlich immer um diese Spannung zwischen Altem und Neuen, fremder Kultur und eigener Lebenswelt. Sein Studium als Chinese in Kassel während der neunziger Jahre hat ihn für diese Erfahrung sensibilisiert. Nach fünf Jahren zurück in Peking erschien ihm auch seine Heimatstadt fremdartig. Tatsächlich sind wenige Jahre beim rasanten Stadtumbau Pekings schon eine halbe Ewigkeit. Miao Xiaochun beschloss, den Wandel in Fotos festzuhalten.

So entstand die Serie „Beijing Index “. Miao Xiaochun versuchte dabei möglichst objektiv vorzugehen. Er legte seine Blickpunkte durch ein Raster auf dem Stadtplan fest und fotografierte an den jeweiligen Kreuzungspunkten im realen Stadtbild mit einer Panoramakamera. Das 360-Grad-Bild der Kamera liefert ein extrem in die Breite gestrecktes Bildformat ähnlich wie die traditionellen Querrollen in der chinesischen Malerei. Für die aktuelle Ausstellung in der Guardini Galerie hat Miao Xiaochun seine Panoramen tatsächlich auf kostbare Seide montiert, wobei die Fotos mittels Computer nun derart bearbeitet sind, dass sie den Eindruck einer handkolorierten Zeichnung machen.

Auch hier treffen also das Alte (in der Form) und das Neue (im Bildinhalt) zusammen. Genau wie die alten Bildrollen mit ihren multifokalen, sich von rechts nach links abrollenden Geschichten lassen sich nun auch Miao Xiaochuns Fotos lesen. Sie erzählen vom Wandel in den Straßen von Peking, zeigen Altes und Neues und das Alltagsleben, festgestellt und eingefroren, wie um zukünftigen Menschen aus einer Zeit zu berichten, die dann längst verloren ist.

Es ist eine zufällige Fügung, dass derzeit auch ein anderer Künstler mit Panoramabildern an die Öffentlichkeit tritt. Nicht festgestellt, sondern buchstäblich bewegt und animiert begegnen dem Betrachter die Panoramen von Ulu Braun in der Galerie Olaf Stüber. Braun, Jahrgang 1976, hat in Potsdam-Babelsberg Animationsfilm studiert, und seine Panoramen sind eigentlich sechs- bis siebenminütige Schwenks im 16:9-HD-Videoformat. Gemäß abendländischer Lesetradition schweift der Kamerablick gemächlich von links nach rechts auf weite Landschaften – oder auch „Parks“, wie die Ausstellung der drei Videoarbeiten überschrieben ist.

Doch seltsamerweise ist der „Atlantik Garden“ bevölkert mit Pferdeherden, die mit einem Hubschrauberlandeplatz versehene Wiese geht unvermittelt in ein Amphitheater über, und zwischen Biergarten, einer tanzenden Christin in Kutte und Fechtern im Rollstuhl erzählen eine Frau und ein Mann bedeutsam-unverständliches Blabla.

Es ist offensichtlich, dass Brauns Landschaftsparks eine komplexe Collage aus vielen Videoschnipseln darstellt. Die daraus resultierende Absurdität der Koinzidenz des Unvereinbaren findet sich auch in den anderen beiden Videoarbeiten. Das Zusammentreffen einer verschleierten Muslimin beim Gebet mit einer nackten, in Animierpose sich räkelnden Frau auf einer sich zu Bergen aufwerfenden Tartanbahn eines Sportplatzes mag amüsieren oder provozieren, je nach Geschmack.

Im Grunde collagiert und verdichtet Ulu Braun aber nur, was im Medienkosmos der Bilder ohnehin ständig simultan präsent ist. Sein Panoramablick auf die gegenwärtigen Verhältnisse scheint – trotz mancher darin enthaltender Umweltverschmutzung – weniger kritisch als schlicht absurd.

Die Rückversicherung bei den traditionellen Bildern – wie bei Miao Xiaochun – greift bei Braun deutlich kürzer. Brauns Referenzen, Dada und Surrealismus, hatten ihrerseits den Glauben an eine Welt vernünftiger Verhältnisse bereits aufgegeben. Nun ja, Brauns Welt ist unterhaltsam und bunt. Doch hat es den Eindruck, diese Folie aus bunten Bildern verdecke mehr, als dass sie aufkläre.

■ Guardini Galerie, Askanischer Platz 4, bis 1. April, Di. bis Fr. 14–19 Uhr

■ Galerie Olaf Stüber Berlin, Max-Beer-Str. 25, bis 26. Februar, Di. bis Sa. 13–18 Uhr