Explosive Emotionen

FAMILIENDRAMA Emotional und ästhetisch erdrückt die Mutter den Sohn in Xavier Dolans Debütfilm „I killed my mother“. Der liebt Literatur, Kunst und seinen Liebhaber – und reproduziert ihre Verhaltensweisen

Ein Panoptikum aus Verletzungen, Missverständnissen und erzieherischer Willkür

VON GASTON KIRSCHE

Viel gelobt wurde Xavier Dolan für die unkonventionelle Bildsprache und Unmittelbarbeit seines Debüts „J’ai tué ma mère“ – „I killed my mother“. 2009 bekam der 21-Jährige für den beklemmenden Film über die Hassliebe des 16-jährigen Hubert Minel zu seiner alleinerziehenden Mutter Chantal Lemming bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes gleich drei Preise in der Sektion „Quinzaine des Réalisateurs“.

Auch, weil der Film so authentisch wirkt: Geschrieben hat Dolan das Drehbuch im Alter von 17 aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit seiner Mutter: „Hätte ich der Realität noch näher kommen wollen, hätte ich Kameras in den Blumentöpfen verstecken müssen und ein Mikro im Hemdkragen meiner Mutter. Aber ich wollte ja keinen Dokumentarfilm drehen.“ Auch seinen Protagonisten spielt Dolan selbst – und entsprechend überzeugend. Sein mütterliches Gegenüber: nicht minder großartig gespielt von Anne Dorval, die sich bis in die letzte Pore in eine trutschige Kleinbürgerin verwandelt.

Ein Panoptikum aus Verletzungen, Missverständnissen und erzieherischer Willkür ist der permanente, von gegenseitiger Respektlosigkeit gekennzeichnete Clinch zwischen den beiden. Nicht nur emotional und mit vulgären Wutausbrüchen, sondern auch ästhetisch, mit einer bombastischen Ansammlung von Kitsch und Plunder, erdrückt die Mutter den Sohn. Der aber interessiert sich für Malerei, Literatur – und seinen ebenfalls jungen Lover Antonin Rimbaud, der nicht nur so heißt wie eine gute Mischung aus Antonin Artaud und Arthur Rimbaud, sondern auch in einer hellen, offenen Wohnung lebt. Mit einer toleranten Mutter und angesagter Kunst. Aber so einfach, wie die Situation scheint, gestaltet sich die Geschichte nicht. Der Sohn reproduziert die Respektlosigkeiten der Mutter auch ihr gegenüber, beschimpft sie, erklärt sie im Unterricht vor der Lehrerin schließlich sogar für tot – und leidet an der immer unüberbrückbareren Kluft zwischen den beiden wie sie, schleppt die von der Mutter vorgelebten Verhaltensweisen als Introjekt, als verinnerlichte Normierung, mit sich herum.

Technisch ist Xavier Dolans ästhetisch beeindruckender Film dabei hervorragend. Der Debütant hatte nicht nur erfahrene (Mit-)SchauspielerInnen, auch die Bildregisseurin und die Cutterin haben dem Rohdiamanten der unmittelbaren, wütenden Erzählung eines 17-Jährigen einen ansehnlichen Feinschliff verpasst.

Sa, 5. 2., 14 Uhr + 20.15 Uhr und So, 6. 2., 14 Uhr + 20.45 Uhr, 3001, Schanzenstraße 75 (im Hof). „I killed my mother“ läuft bis Anfang März, Termine unter www.3001-kino.de