Demut mit Charisma

Mit seinem Kniefall 1970 vor dem Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto folgte Willy Brandt einer Tradition verdruckster Christianisierung des Holocaust-Gedenkens

VON CLAUS LEGGEWIE

Bilder führen seit der „ikonischen Wende“ im Kulturdiskurs ein Eigenleben, dessen empirische Evidenz oft schleierhaft bleibt. Manche Autoren jonglieren mit künstlerischen, massenkulturellen und politischen Ikonen, als wären sie noch die Ideenhistoriker, gegen deren Idealismus und Bindung an das geschriebene Wort sie einmal angetreten sind. Insofern ist es gut, wenn sich politische Ikonografie zunächst der Prozesse und Ereignisse vergewissert, deren visuelles „Konstrukt“ sie zu rekonstruieren beabsichtigt.

Das beabsichtigt eine zum Denkmalsturz aufrufende Streitschrift der Münchner Zeithistoriker Thomas Brechenmacher und Michael Wolffsohn zu Willy Brandts Warschauer Kniefall am 7. Dezember 1970, der sich ins kollektive Bildgedächtnis eingegraben hat. Der angekündigte Denkmalsturz findet aber gar nicht statt, denn auch diese Studie bescheinigt Brandt, er habe „das Bild vom wirklich neuen, besseren, menschlicheren Deutschland, nicht mehr polternd, gar mordend, sondern demütig“, geschaffen.

Die Auswertung zeitgenössischer Diplomatieakten und Presseberichte kommt zu einem verblüffenden Ergebnis: Brandts Kniefall war 1970 keineswegs das (aus heutiger Sicht oft vermutete) globale, sondern zunächst gar kein Medienereignis und dann ein lokales, das auf Deutschland begrenzt blieb. Weder in Polen und im übrigen Ostblock noch in der westlichen Allianz, schon gar nicht in der jüdischen Welt wurde die Geste so gewürdigt, wie Brandt sie rückblickend selbst einordnete: „Ich habe im Namen unseres Volkes Abbitte leisten wollen für ein millionenfaches Verbrechen, das im missbrauchten deutschen Namen verübt wurde.“

Die Gründe für die anfängliche Nichtzurkenntnisnahme wirken überraschend aktuell: In Polen herrschte ein antisemitischer Nationalismus, das Regime sah den Kniefall als grobe Einmischung und versuchte, den Abstecher zum Denkmal für den Warschauer-Ghetto-Aufstand 1943 herunterzuspielen. Die transatlantischen Beziehungen kriselten, Brandt hatte in seiner Antrittsrede die Beziehung der Bundesrepublik zu Israel nicht mehr als Sonderverhältnis charakterisiert, sondern eine „Politik ohne Komplexe“ angekündigt, und Regierungsmitglieder wie Walter Scheel und Hans-Jürgen Wischnewski machten arabophile Außenpolitik.

Anders gesagt: Die demütige Geste des gebeugten Knies wurde so gedeutet, dass deutsche Nationalinteressen durch einen historisch unbelasteten Kanzler von nun an ungenierter vertreten würden. Das spürten Politiker in Tel Aviv wie in Washington und auch erklärte Philosemiten wie Axel C. Springer. Brechenmacher und Wolffsohn zeigen, dass die im diplomatischen Verkehr völlig anormale Geste eine Normalisierung des deutsch-jüdischen und des deutsch-israelischen Verhältnisses einleitete. Und in Moskau wurde klar, dass dies ein Affront war gegen Regime wie das in der DDR. Denn sie bezogen ihre Massenlegitimation aus einem antifaschistischen Mythos, der das Schicksal der Juden ignorierte.

Zwei Aspekte des Kniefalls wirken besonders pikant: Möglicherweise war er weniger spontan als angenommen; Willy Brandts Berater Klaus Harpprecht hatte ob der schlechten Stimmung zwischen der sozialliberalen Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland sowie Israel eine „öffentliche Geste“ angeregt. Zudem ist unklar, ob der deutschen Delegation eigentlich der Unterschied bekannt war zwischen dem jüdischen Ghettoaufstand im April/Mai 1943 und dem „Warschauer Aufstand“ der polnischen Heimatarmee gegen die deutsche Besatzung im August 1944 – eine Verwechslung, die heute noch vielen unterläuft und tief ins kollektive Unbewusste der polnischen Nation hineinwirkt.

Der Genuss der schmalen Studie wird erheblich getrübt durch den stakkatohaften, bisweilen bildzeitungsartigen Proklamationsstil und überflüssige Polemik. Gibt sich dieses Buch populär um jeden Preis, so ist die aus einer Konstanzer Dissertation hervorgegangene Studie Christian Schneiders schwere soziologische Kost. Die deutsche Presse von 1970 und im „Jubiläumsjahr“ 2000 auswertend, geht Schneider der Frage nach, „wie und warum eine demutsvolle Geste der Selbsterniedrigung und Schuldanerkennung dennoch charismatisch wirken und – wenn auch zeitverzögert – zu einem nationalen Symbol werden konnte“.

Anders als bei Ritualen üblich bezog diese Geste ihre Leistung symbolischer Integration ja nicht aus der Bekräftigung von Kontinuität, sondern aus einem markanten Bruch und dem „Charisma des außerordentlichen Vorfalls“. Gelingen konnte das nur durch den kaum verhohlenen Rückgriff auf eine religiöse Figur – durch „Christomimesis“ (Bernhard Giesen).

Beleg ist das Titelbild des Time-Magazins vom Januar 1971, das Brandt visuell in die Nähe des Gekreuzigten rückt; auch Zeitgenossen wie Stern-Chef Henri Nannen sahen in dem Kniefall eine „biblische Szene“. Schneider analysiert sie mit allen Registern der soziologischen Theorie durch und leistet ansatzweise auch eine Bildinterpretation. Doch es geht ihm (wie dem Rest der weiterhin bildabstinenten Soziologie) mehr um die Rekonstruktion eines Schuld-Narrativs als um die politische Ikonografie des Kniefalls.

Auf dieses hohe Niveau werden die wenigsten Leser folgen, die Brandts Kniefall als populärkulturelles Oberflächenmotiv tradieren – leider, denn sie würden erstaunt sein, wie stringent daran die unterschwellige Sakralität säkularer Gesellschaften demonstriert werden kann. Denn nur als „biblische Szene“ lässt sich der symbolische Vorgang von 1970 einer entchristlichten Gesellschaft nachvollziehbar machen.

Willy Brandts Erinnerungsoperation folgte übrigens einer langen Übung bewusster oder verdruckster Christianisierung des Holocaust-Gedenkens nach 1945, was Schneider ebenfalls plausibel macht. Für ihn ist der Kniefall das aus christlicher Mythologie gespeiste Gegenprogramm zur radikalen und pervertierten Verdiesseitigung des Heiligen durch den Nationalsozialismus, die den millionenfachen Mord an den Juden erst ermöglichte.

Willy Brandt, könnte man hinzufügen, hat das „abendländische“ Restaurationsprogramm der ersten Nachkriegsjahre fortgeschrieben. Wer hätte das gedacht? Gerhard Schröder wohl kaum, der im Jahr 2000 als Brandt-Enkel und Kanzler an der Stelle des Kniefalls ein dieses Ereignis darstellendes Relief einweihte. Dass auch er um die übliche Kranzniederlegung nicht herumkam, bringt aber erneut den Einbau religiöser Elemente in Vollzüge politischer Repräsentation ans Licht.

Christoph Schneider: „Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung“. UVK Verlag, Konstanz 2006, 331 Seiten, 34 Euro Michael Wolffsohn/Thomas Brechenmacher: „Denkmalssturz? Brandts Kniefall“. Olzog Verlag, München 2005, 178 Seiten, 18,50 Euro