Der Samurai im Rollstuhl

Allianz von Schelmenroman und Hollywood-Burleske: Im Roman „Joe Speedboat“ kann Tommy Wieringa selbst aus Wrestlingszenen metaphysische Luftnummern machen

Der Schriftsteller Tommy Wieringa erzählt mal eine ganze andere Adoleszenzgeschichte aus der niederländischen Provinz. Musik und Popkultur spielen keine Rolle, mit solchen Nichtigkeiten hält man sich hier gar nicht erst auf. Um die nötigen Distinktionsgewinne zu erzielen, legt der geheimnisvolle, charismatische Phantast Joe Speedboat zunächst Bomben und baut dann, nachdem er sich die halbe Hand weggesprengt hat, mit seinen Freunden ein Flugzeug. Damit kreist er über dem Grundstück der dorfbekannten Nudistin, weil sie nun mal wissen wollen, was es mit dem anderen Geschlecht so auf sich hat. Später macht er auch noch einen Bagger rallye- und wüstentauglich und fährt die Paris–Dakar mit, nur um seinen Stiefvater wiederzusehen, einen Afrikaner, der vor der bohrenden Eifersucht von Joes Mutter zurück in sein Dorf geflüchtet ist.

Schelmenroman und Hollywood-Burleske gehen in „Joe Speedboat“ eine wunderbare Allianz ein, und man verzeiht Wieringa seinen etwas arg aufgedrehten, mutwilligen Plot, weil er durchaus filigran konstruiert ist – und weil das Buch daneben auch literarisch noch etwas zu bieten hat. Erzählt wird die Geschichte nämlich vom armen Fransje, der von einem Trecker überrollt wurde, monatelang im Koma lag und seitdem stumm ist, fast querschnittgelähmt, und dann auch noch unter spastischen Zuckungen leidet. Fransje ist das „bionische Auge“, er sieht alles, schreibt alles auf und erst unter seinem kühlen, mal sarkastischen, mal zutiefst sehnsuchtsvollen Blick bekommt diese Kolportagestory seine literarische Qualifikation.

Seine Diktion ist situativ absolut angemessen: ruhig räsonnierend, wenn es etwas Existenzielles zu erklären gilt, konzis und atemlos in den Spannungspassagen. Er kann vulgär sein, wenn es nottut, aber auch sanft und demütig, wenn er die charakterliche Größe seines Helden Joe besingt. Und vor allem maßt er sich nie an, die Menschen verstanden zu haben, versucht sie nie auf einen Nenner zu bringen, er lässt ihnen immer ihre ganze verwirrende Komplexität. So wie Menschen eben sind.

Fransje selbst versucht sein Schicksal wie eine Art Zen-Buddhist zu meistern und zieht immer wieder Trost und Belehrung aus Miyamoto Musashis Samurai-Philosophie „Buch der Fünf Ringe“, das dann letztlich auch diesen Roman strukturiert. „Der Samurai“, predigt Musashi, „hat einen doppelten Weg, den des Pinsels und den des Schwerts.“ Und diesen doppelten Weg geht Fransje. In der ersten Hälfte des Buches beobachtet er nur und schreibt mit, im zweiten Teil tritt er selbst in Aktion: Joe Speedboat, dieser Heilige, der schon lange die immense Kraft von Fransjes gesundem Arm bewundert hat, macht aus ihm einen erfolgreichen Armwrestler.

Die Wettkampfszenen gehören zu den spannendsten und zugleich auch literarisch gelungensten des Buches. Wieringa macht aus diesem armselig-grobschlächtigen Gedrücke eine brillante metaphysische Luftnummer. Wenn Fransje von den Endorphinen weggespült wird in eine bessere Welt, nimmt man ihm das sofort ab. Wieringa hat drei weitere Romane geschrieben, allesamt unübersetzt bisher – die möchte man jetzt bitteschön auch auf Deutsch lesen. FRANK SCHÄFER

Tommy Wieringa: „Joe Speedboat“. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser Verlag, München 2006, 298 Seiten, 19,90 Euro