„Mein Kind ist kein Debattenbeitrag“

Joachim Helfer hat mit dem libanesischen Schriftsteller Rashid al-Daif ein Buch geschrieben, „Die Verschwulung der Welt“. Jetzt fühlt sich der Hetero al-Daif missverstanden. Und der Homo Helfer wurde Vater

VON MARTIN REICHERT

„Die Verschwulung der Welt“ (Edition Suhrkamp) hat eine Debatte in deutschen Zeitungen provoziert. Rashid al-Daifs Beitrag zum Buch erschien ohne Helfers Ergänzung im arabischen Original unter dem Titel „Wie der Deutsche zur Vernunft kam“. Ein Bestseller in Libanon. Für Helfers Text hat sich noch kein arabischer Verleger gefunden. Eine Übersetzung soll auf der Website von Helem, der einzigen Gay-Rights-Organisation der arabischen Welt, erscheinen.

taz.mag: Herr Helfer, was bedeutet eigentlich „Verschwulung der Welt“?

Joachim Helfer: Das ist ein Zitat von Hubert Fichte, einem der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegszeit – der jedoch gerne unterschätzt wird, weil er nicht nur schwul war, sondern auch darüber geschrieben hat. Der Satz ist Chiffre für eine Utopie, in der die rituellen Schranken durchlässiger oder aufgehoben werden. Verschwulung heißt eigentlich: Humanisierung. Die Menschen als Menschen zu sehen.

Warum bereitet dieser Titel manchem Unbehagen?

Der Titel bereitet Menschen Unbehagen, die insgeheim eine „Verschwulung“ befürchten. Gemeint ist die Sichtbarkeit von nicht heteronormativen Lebensweisen. Man muss sich nichts vormachen, auch unsere aufgeklärten, linken Freunde können irritiert darauf reagieren, wenn in ihrem Haus das dritte schwule Pärchen einzieht.

Homosexualität gilt noch immer als dekadent?

Wenn man Homosexualität als Absage an Fortpflanzung liest. Wenn man „Verschwulung“ begreift als Gleichsetzung sichtbarer Homosexualität mit sichtbarer Dekadenz und dem Aussterben einer Gesellschaft.

Mit ihrem Kind beweisen die ja das Gegenteil …

Mag sein, aber mein Kind war nicht als Debattenbeitrag gemeint. Anhand der Debatte über unser Buch kann man gut sehen, wie wir uns selbst im Weg stehen mit falscher Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten. Aufklärung ist keine Wellnessfarm. Sie darf auch wehtun.

Wie geht es Ihrer Tochter?

Gut, danke. Sie ist jetzt vierzehneinhalb Monate und läuft wie ein Wiesel. Sie fängt auch schon an zu sprechen.

Kann Sie schon „Papa“ sagen?

Nein, das erste Wort war „ja“, das zweite „danke“.

Wie leben Sie?

Das Kind lebt bei der Mutter, ein paar U-Bahn-Stationen entfernt. Ich wohne weiterhin zusammen mit meinem Lebensgefährten. Aber es vergeht fast kein Tag, ohne dass ich sie sehe.

Sind Sie denn jetzt noch schwul?

Das ist ein komplizierte Frage. Ich bin genau der, der ich immer war. Ein eher weicher, eher femininer Mann, der sich auf der Straße eher nach Jungs als nach Mädchen umschaut und der in seinem Leben häufiger mit Männern als mit Frauen geschlafen hat. Ich bin eigentlich da, wo ich als Jugendlicher war. Ich mag diesen Identitätsdiskurs nicht wirklich, obwohl ich durchaus anerkenne, dass er eine emanzipatorische Notwendigkeit hat.

Wenn Sie jetzt mit dem Kinderwagen durch die Stadt gehen: Fühlen Sie sich dann als richtiger Mann?

Eigentlich fühlte ich mich beim erstem Mal eher mütterlich. Ich glaube, dass ein Säugling jeden Menschen, der mit ihm zu tun hat, eher in eine Mutter verwandelt als in einen Vater. Es wertet mich weder als Mann noch als Mensch auf – es macht mich einfach glücklich.

Wie geht Ihr Freund mit der Situation um?

Am Anfang hatte er Angst, mich zu verlieren. Doch nun ist er ganz selbstverständlich in die Rolle des Großvaters hineingewachsen – er liebt die Kleine.

War das Thema Fortpflanzung früher ein Thema für Sie?

Höchstens als Angst. Wenn ich mit Mädchen geschlafen habe, dachte ich immer: Hoffentlich stimmt das auch, dass sie die Pille nimmt. Schwangerschaft war eine Bedrohung, ein Preis, den zu bezahlen ich nicht bereit war.

Den Verlust der persönlichen Freiheit?

Eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, ja. Eine Verantwortung übernehmen zu müssen, der ich mit Sicherheit nicht gewachsen gewesen wäre.

Nach Ihrer neuen Erfahrung: Worum geht es denn nun bei der Fortpflanzung?

Eigentlich geht es darum, dass beide – jeder für sich und durchaus egoistisch – etwas weitergeben wollen. Es geht um … ich fürchte, man kann das nicht verstehen, ohne an religiöse Bereiche zu rühren. Es hat etwas zu tun mit einem tiefen Verständnis einer Ordnung: Wer einatmet, muss auch ausatmen. Wer etwas empfängt, möchte es irgendwann auch weitergeben.

Das Kind bedeutet Unsterblichkeit?

Das Kind füllt die Lücke auf, die man irgendwann hinterlassen wird.

Das heißt doch, dass die Religionen Recht haben: Sex ist an die Fortpflanzung gebunden.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Fortpflanzung ist an Sexualität gekoppelt. Ohne Sexualität geht es nicht. Unrecht hat der Monotheismus in der Behauptung, dass Sexualität nur der Fortpflanzung dient.

Sie als Vater sind jetzt jedenfalls kein „Gräuel mehr vor Gott“ – Sie haben sich reproduziert.

Doch, denn ich schlafe ja weiterhin mit Männern.

Beruhigend. Sind Ihre Eltern jetzt endlich stolz auf Sie?

Meine Eltern leben nicht mehr, aber meine Mutter war auch so stolz auf mich, einfach weil sie meine Mutter war.

Rashid al-Daif, Ihr Koautor, hat sich jedenfalls gefreut, dass Sie nach all den Jahren sexueller Verwirrung endlich zur Vernunft gekommen sind.

Ich finde das lächerlich.

Haben Sie eigentlich Humor?

Schwer, so etwas von sich selbst zu behaupten, aber ich kenne viele, die dies zumindest so sehen. Warum?

Es heißt, Sie hätten einfach nicht verstanden, dass al-Daif seine Geschichte ironisch gemeint hat.

Ich habe Dinge mit Rashid erlebt, von denen mir nun nachträglich erzählt wird, dass ich sie als Ironie begreifen müsse. Gegenfrage: Sie laden jemanden im Rahmen eines Kulturaustauschs zu sich nach Hause ein, kochen ein mehrgängiges Essen, laden Freunde dazu ein. Und er rührt keine einzige der Speisen an. Ist das ironisch?

Vielleicht hatte er keinen Appetit?

Er hat sich geekelt, in einem schwulen Haushalt Messer und Gabel auch nur anzufassen – auch und erst recht im Libanon gilt es als Affront, während einer Einladung nicht zu essen. Ich glaube, dass er seinen Text im Kern genau so meint, wie er ihn geschrieben hat.

Ihre Kritiker können diese Ironie jedenfalls erkennen.

Ich glaube, dass sie es witzig finden wollen, und ich glaube, dass sie unehrlich sind. In Wahrheit sind sie tief erschrocken über den Text und wollen sich nicht eingestehen, dass es diesen Mentalitätsgraben gibt. Das ist problematisch: Vieles von dem, was kritisch über mein Buch geschrieben wurde, entstammt letztlich einer rassistischen Grundhaltung: der Überzeugung, dass sich Araber ontologisch von uns unterscheiden und dass es deshalb imperialistisch-kolonialistisch sei, von ihnen zu erwarten, so wie wir zu sein.

Inwiefern?

Die Grundthese lautet: Man kann doch von einem arabischen Menschen überhaupt nicht erwarten, dass er sich auf das westliche Konzept der Homosexualität einlässt. Zu Ende gedacht ist das rassistisch. Mein Text hingegen redet immer und immer wieder von einer Ungleichzeitigkeit – es handelt sich um ein Modernisierungsgefälle, und zwar im Zeitrahmen weniger Jahrzehnte.

Al-Daif vertritt Ihrer Meinung nach eine hinterwäldlerische Position?

Allerdings. Es die Position eines intelligenten Menschen, der hinter dem Wald lebt. Die arabische Welt ist in vielerlei Beziehung hinterwäldlerisch, und es nutzt den progressiven Kräften dort überhaupt nicht, wenn westliche Intellektuelle diese klar messbaren Entwicklungsrückstände – Rechtssicherheit, Pressefreiheit, Korruption – einfach leugnen. Das hilft jenen Menschen, die die Verhältnisse positiv verändern wollen – und das ist eigentlich die Mehrheit –, überhaupt nicht weiter. Ich verstehe nicht, warum Menschen, die hier leben und ihre Freiheiten selbstverständlich genießen, ihnen in den Rücken fallen.

Tun sie das?

Eine mir bekannte säkulare, linke Palästinenserin, so eine Art Pressesprecherin eines Palästinenser-Camps im Libanon, hat zum Beispiel gerade eine Gruppe von feministischen Italienerinnen aus dem Lager geworfen: Sie waren dort im Reisebus vorgefahren und hatten sich erst mal Kopftücher umgebunden, um „Rücksicht auf die kulturellen Gepflogenheiten zu nehmen“. Sie antwortete: „Das ist eine kulturelle Gepflogenheit der Hisbollah und anderer durchgeknallter Fundamentalisten, aber nicht meine.“

Wie ist der Umgang mit Homosexuellen im Libanon?

Die Mitarbeiter der schwulen Menschenrechtsorganisation Helem aus Beirut haben Rashids Text mit großem Interesse gelesen. Sie fanden den Text durch die Bank nicht komisch. Sie fanden ihn grauenerregend.

Wusste al-Daif, dass es in Beirut eine schwule Szene gibt?

Rashid wusste nicht, dass es Helem gibt, hatte keinerlei Ahnung von der schwulen Subkultur in Beirut. Als ich mir dann selbst einen kompetenten Führer organisiert hatte, hat er sich auch nicht gefreut. Im Gegenteil hat er mich gewarnt: Er bat mich, diskret zu bleiben, damit ich ihn nicht diskreditiere.

Es gibt also in Beirut Schwule und Lesben, die sich als solche definieren?

In der Tat gibt es Schwule und Lesben im Sinne der westlichen Identitätsauffassung. Das hat damit zu tun, dass während des Bürgerkriegs sehr viele Libanesen emigriert sind und jetzt zurückkehren – die machen nun einfach ihr Ding und warten ab, was passiert.

Passiert was?

Helem zum Beispiel wird regelmäßig durchsucht: Da erscheinen dann morgens um elf Dutzende Polizisten und durchsuchen die Redaktionsräume, stellen dann fest, dass gerade keine kopulierenden Paare auf den Schreibtischen liegen, und müssen unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Homosexualität ist im Libanon strafbar.

Ja, aber die bestehenden Gesetze werden kaum angewendet – der libanesische Staat ist schwach. Problematisch ist die reale Macht der Hisbollah, die ihren Bereich zunehmend auf das ganze Land ausdehnt, erst recht nach den israelischen Bombardements. Die Hisbollah macht Homosexuelle ausfindig und übergibt sie der Staatsgewalt – der Staat lässt sie dann wieder frei, weil er nichts mit ihnen anzufangen weiß.

Sie tritt als aktiver Verfolger auf?

Allerdings. Aber die Hauptgefahr geht eigentlich von den Familien aus. Junge Homos werden nicht vom Staat, sondern von ihrem Vater, ihrem Onkel oder ihrem Bruder bedroht. Sie werden umgebracht, ähnlich wie Mädchen, die vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten. Es gibt auch sehr viele Selbstmorde.

Gibt es dennoch einen religiösen Zusammenhang?

Ich halte das für eine Folge des Patriarchats – die Unterdrückung der Homosexuellen ist ein unverzichtbarer Teil der patriarchalen Ordnung, ganz einfach.

In solchen Gesellschaften grassiert tendenziell mann-männliche Sexualität – auch zwischen Männern, die sich als heterosexuell definieren. Eine Folge der Geschlechterapartheid.

Es gibt unter Jugendlichen viel mehr Notstandshomosexualität. Zumindest in den ländlichen Regionen wird Sex erst mit der Ehe möglich. Ich finde es schon merkwürdig, dass Rashid zu mir sagt: Homosexualität ist doch eure Sache, eine westlich-dekadente Erscheinung. In Berliner Schwimmbädern gibt es jedenfalls keine getrennten Duschen und Umkleidekabinen für 12- bis 18-jährige Knaben und für Männer.

Was steckt dahinter?

Man spürt eine Angst vor homosexueller Gefährdung, und generell ist die Einstellung zur Sexualität nicht so freizügig wie bei uns.

Was bedeutet diese Haltung für die Frauen im Libanon?

Ich habe das zwiespältig erlebt. Es gibt selbstständige, berufstätige, emanzipierte Frauen im Libanon. Andererseits gab es bei unseren öffentlichen Veranstaltungen nur eine einzige Wortmeldung einer Frau. Sie wollte wissen, ob ein Austausch wie unserer geeignet sei, die Emanzipationsbestrebungen der Frauen im Libanon zu ermutigen. Ich konnte ihre Frage nur mit einem „Ich hoffe es“ beantworten. In Rashids Stammkneipe zum Beispiel gibt es keine Frauen – nicht, dass ihm das überhaupt auffiele.

Von Rashid al-Daif stammt der Satz, das Bett sei der Kriegsschauplatz zwischen arabischer Tradition und westlicher Moderne.

Er sagt auch, dass sich die Frauen im Libanon der Emanzipationsfortschritte, die im Westen gemacht wurden, sehr stark bewusst sind – sie wollen das auch haben. Die Männer sind sich dieser Fortschritte auch stark bewusst – und wollen das nicht haben.

MARTIN REICHERT, 32, ist taz-Autor. Für seine Reportage „Adieu, Habibi“ (taz.mag vom 29. 7. 2006) über das schwul-lesbische Leben in Beirut erhielt er den Felix-Rexhausen-Preis