Musikalische Eingreiftruppe

PROTESTAKTION Mit seinen Auftritten will das „Orchester im Treppenhaus“ die Welt verbessern

Um Nachwuchs für eine vom Aussterben bedrohte Art – den Orchesterkonzertbesucher – zu akquirieren, spielt ein Orchester in Hannover Neue Musik. Seine These: Die Ablehnung hat weniger mit der Musik zu tun, mehr mit der Darreichungsform zu tun. In Sitzreihen zusammengepferchte, in Abendgarderobe verpackte Körper sehen stocksteif und stumm ebenso drangsalierten Menschen zu.

Seit 2006 lädt daher das „Orchester im Treppenhaus“ zum Entdecken zeitgenössischer Tonsetzerkunst in Fläz-Sofas, Chill-out-Liegestühle, Kuschelecken. Oder an ungewöhnliche Orte wie ins namensgebende Treppenhaus der Cumberland’schen Galerie, in Straßenbahnen, Einkaufszentren, Zirkuszelte, Clubs oder Werkhallen.

Die 23 jungen Instrumentalisten geben sich für Feinkostdarbietungen in Pinguin-Uniform bei Sommerlustbarkeiten her, machen bei Produktionen des Schauspiels Hannover mit, zelebrieren Hörspielkonzerte im Dunkeln. Nächste Woche feiern sich die Irrwische selbst: mit einer Reihe von „Notfallkonzerten“. Und Weltrettung ist angesagt. Dirigent Thomas Posth: „Wir haben die übliche Behauptung, kein Mensch brauche Neue Musik, frech umgedreht.“

Im Gegensatz zur Environmental Art oder dem „Site Specific Theatre“, die mit den Orten verschmelzen wollen, spielt das „Orchester im Treppenhaus“ nicht dort, wo es schön ist, sondern dort, wo es wehtut. Durch ein Netzwerk an Unterstützern und Fans kommen immer zehn bis 50 Zuschauer zu den kurzen, intensiven Konzerten im öffentlichen Raum.

Aber die Welt verbessern? „Geht natürlich nicht“, sagt Posth. „Aber wir tun was dafür.“ So wollte man etwa den urbanen Verfall stoppen und eine Bauruine retten: das Ihme-Zentrum, in Hannover architektonischer Schandfleck und Mahnmal stadtplanerischer Betonfantasie. Mit THW-Einsatzwagen fuhren die Musiker vor, griffen mit harschen Klängen das Gebäude an, lauschten mit Megafonen hinein, um seine Krankheit zu diagnostizieren. Ein Trompeter injizierte schließlich immer wieder dieselbe Note: „Das heilende h“, erklärt Posth.

Bei den Notfallkonzerten kommende Woche geht das Orchester unter anderem in den Hauptbahnhof: Dort begrüßt es virtuelle Flüchtlinge mit warmen Willkommenstönen, die sich auf afrikanische Nationalhymnen beziehen.

Weil die mobile musikalische Eingreiftruppe recherchiert hat, durch Feinstaubbelastung stürben doppelt so viele Hannoveraner wie durch Verkehrsunfälle, wird dieser Todbringer bei einem anderem Konzert entsorgt: Holz- und Blechbläser filtern bei der Uraufführung einer Frischluftkomposition durch ihr Ein- und Ausatmen den Dreck aus der Luft. Und die feinstaubig verstopften Rohrwindungen der Trompeten kommen später ins Sprengel-Museum.  JENS FISCHER

■ Eröffnungskonzert „Huhnmaner Tod“: Mo, 7. Juli, 19 Uhr, Geflügelschlachterei Wietze