Ein Juwel geht unter

Die See-Krankenkasse soll der Gesundheitsreform zum Opfer fallen. Die einzige echte Bürgerversicherung Deutschlands wird künftig nach den Plänen der Koalition anderen Kassen gleichgestellt. Auch Berufsfremde sollen künftig aufgenommen werden

VON ESTHER GEISSLINGER

Auf einem Schiff herrscht Hierarchie: Auf der Brücke steht der Kapitän, die Matrosen scheuern das Deck. Aber alle sitzen im gleichen Boot – wörtlich und im übertragenen Sinn. Denn eines verbindet die Seeleute: Jeder, ob Maat oder Steuermann, ob Lotse oder Leichtmatrose, ist bei der See-Krankenkasse versichert. Die stellt eine Besonderheit im deutschen Gesundheitssystem dar, erstens, weil Schlecht-, Gut- und Bestensverdiener gleichermaßen Mitglieder sind, zweitens, weil es keine Beitragsbemessungsgrenze gibt. Die See-Krankenkasse ist damit eine echte Bürgerversicherung: Jeder ist drin, jeder zahlt nach seinem Einkommen.

Noch – denn das gemeinsame Boot wird torpediert: Nach taz-Informationen fällt die See-Krankenkasse der Gesundheitsreform zum Opfer. Die Versicherung soll nach den Plänen der Koalition anderen Kassen gleichgestellt werden. Künftig soll die See-Krankenkasse auch Berufsfremde aufnehmen müssen. Das bestätigte auf Anfrage Wolfgang Wodarg.

Der schleswig-holsteinische SPD-Bundestagsabgeordnete aus Flensburg hat für das Solidaritätsmodell aus dem Meer gekämpft und verloren. „Die See-Krankenkasse ist ein Denkmal mit hohem Symbolwert für die Sozialdemokratie, eine wunderbare Sache“, sagt er. Genau so, als echte Gemeinschaft aller Versicherten, sollten die Krankenkassen seiner Meinung nach eigentlich funktionieren: „Wir kämpfen für eine allgemeine Bürgerversicherung. Hier haben wir vorbildliche Zustände – und die werden nun abgeschafft.“ Wodarg weiß, wovon er spricht: Er hat als Schiffsarzt gearbeitet und war am Hamburger Hafen tätig. Weil er den Wert des „Juwels See-Krankenkasse“ so genau kennt, hat er sich in der SPD-Fraktion für das Modell stark gemacht.

Die See-Krankenkasse steht zurzeit nur aktiven oder ehemaligen Seeleuten und ihren Familien offen, diese sind Pflichtmitglieder. Bundesweit sind rund 70.000 Menschen betroffen, die meisten leben naturgemäß an den Küsten von Nord- und Ostsee. Dort, in den Hafenstädten wie Bremerhaven, Cuxhaven, Rostock, Emden und Kiel, finden sich auch die Büros der Krankenkasse, Hauptsitz ist Hamburg.

Durch die Gesundheitsreform wird die Kasse nicht aufgelöst, doch ihr Charakter verschwindet, die Solidargemeinschaft ist dahin. Berufsfremde könnten künftig durch die geringen Beiträge angelockt werden. Gleichzeitig gelten die heutigen Pflichtmitglieder ab einem gewissen Einkommen als freiwillig Versicherte. Besonders jüngere Kapitäne, die Gutverdiener der sieben Weltmeere, könnten die Anker lichten und zu den lockenden Gestaden privater Gesellschaften segeln. Es bleibt das Strandgut: Geringverdiener, Alte, Kranke. Deren Last und Kosten trugen bisher die Kapitäne, deren Zahlungen die Beitragssätze für alle niedrig hielten.

Durch die Neuregelung bekommt das heute ausbalancierte Schiff Schlagseite – wie das ganze Gesundheitssystem, fürchtet Wodarg: „Gerade für chronisch Kranke ist die Reform schlecht. Man lässt sie allein.“

Die See-Krankenkasse ist im großen Gesundheitspaket nur ein winziger Baustein. Dass auch sie betroffen sein würde, wusste Wodarg schon seit den ersten Entwürfen des Pakets. Er hatte aber gehofft, das verhindern zu können. Ursprünglich geplant war auf jeden Fall, dass es eine Übergangsfrist geben würde. Demnach sollte die Versicherung der Seeleute erst zwei Jahre später unter das neue Gesetz fallen. Doch auch diese Galgenfrist scheint nun gekappt.

Beobachter gehen davon aus, dass diese neueste Entwicklung ein gezielter Schlag auch aus der eigenen Partei gegen den Mann von der Ostsee sein könnte: Wodarg gehört zu den klaren Befürwortern einer Bürgerversicherung und hofft immer noch, die Reform in eine andere Richtung umsteuern zu können. Das jetzt drohende Ende für die See-Krankenkasse sei eine „Strafaktion“ gegen den Politiker, heißt es von Beobachtern. Wodrag hatte zuvor öffentlich behauptet, der Rückhalt in der SPD-Fraktion für die Reform schwinde.

Der SPD-Arbeitskreis, dem Wodarg angehört, hat nun einen Antrag gestellt, die See-Krankenkassen zumindest für weitere zwei Jahre unangetastet zu lassen. Beschlossen ist bei der Gesundheitsreform sowieso noch nichts. Gestern teilte die Kieler Gesundheitsministerin Gitta Trauernicht trocken mit: „Angesichts der Tatsache, dass wichtige Punkte der Gesundheitsreform weiterhin offen sind und die Verhandlungen noch andauern, ist die Bewertung ,Durchbruch‘ für diesen Kompromiss eines Kompromisses bemerkenswert.“ Wie Schleswig-Holstein sich bei der Abstimmung im Bundesrat entscheiden werde, so die Ministerin, stehe noch nicht fest. Erst müsse der endgültige Gesetzentwurf vorliegen.

Die See-Krankenkasse selbst gibt sich noch optimistisch. In ihrer Mitgliederzeitschrift „See sozial“ heißt es: „Wir bleiben auf Kurs, auch wenn die Wogen zurzeit etwas höher gehen.“