Die Revolutionierung der Massen in drei Minuten

Beim Rudi-Dutschke-Impro-Slam im Festsaal Kreuzberg versuchten sich Studenten, Kiezoriginale und Theatersportler in der Technik der spontanen 3-Minuten-Agitation. Die Weltrevolution haben sie nicht ausgelöst – aber die Umbenennung der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße vorangebracht

„Wir brauchen eine krasse Rudi-Dutschke-Straße“ „Damals im 129er Bus bei den Scheißimperialisten“

von Nina Apin

Dass die Weltrevolution ausgerechnet in einem holzgetäfelten türkischen Hochzeitssaal am Kottbusser Tor ihren Anfang nimmt, daran glauben nicht einmal hartgesottene Marxisten. Doch für eine zünftige Wirtshausagitation ist das rustikale Ambiente des Festsaals Kreuzberg der perfekte Ort. Die Bühne bietet Platz für große Gesten, der Tresen liegt zentral, und von der Galerie herab bleibt das zu agitierende Fußvolk immer im Blick der Funktionäre.

Die taz nutzte das revolutionäre Potenzial der Lokalität, in der sonst Konzerte und Lesungen stattfinden, für ihren „Rudi-Dutschke-Impro-Slam“, einer zeitgemäßen Form der Wirtshausrevolution. Mit open stage und open mike sollten die Wähler Kreuzbergs am Donnerstagabend davon überzeugt werden, die Umbenennung der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße beim Bürgerentscheid am 21. Januar durchzusetzen. Dass man mit einem Nein auf dem Wahlzettel für etwas stimmen soll, gehört zu den Widersinnigkeiten der spätkapitalistischen Realität, mit denen die Redner auf der Bühne fertigwerden mussten.

Unter einem schnittigen Schwarzweißporträt des charismatischen Redners Rudi Dutschke gaben sich Radio-Eins-Moderator Robert Skuppin, die Improtheatergruppe Theatersport Berlin und Freiwillige aus dem Publikum alle Mühe, ihrem Vorbild gerecht zu werden und eine saubere Performance in freier Rede hinzulegen. Die Bedingungen des Slams: Jeder bekam drei Minuten, um die 250 BerlinerInnen, die sich auf Parkett und Galerie drängten, mit einem flammenden Appell, einer bewegende Grundsatzrede oder einem Brüller in Wallung zu bringen. Dem Gewinner winkte ein Wochenende in Dutschkes Geburtsort Luckenwalde inklusive Wellnesshotel und Broiler im Imbiss.

Den Anfang machte Gereon Asmuth, Leiter der taz-Berlin-Redaktion. Er zitierte aus einer wütenden Verurteilung des Dutschke-Attentats, das ausgerechnet von Kurt Biedenkopf stammt – damals Rektor der Bochumer Uni, später CDU-Ministerpräsident in Sachsen. Warm wurde es aber erst im Saal, als die drei Theatersportler die Revolution in einen Zehlendorfer BVG-Bus verlegten und erklärten, wie man aus einer Kaffeebohne die Erleuchtung erfährt.

Wie lustig der erste Freiwillige des Abends war, der mit Baskenmütze und schwerem Akzent eine Dutschke-Rede aus dem Jenseits gab, merkte man erst, als das Original vom Tonband schepperte. „Die Revolutionierung der Revolutionäre ist Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen“, solche mit gepresster Stimme vorgetragenen Nominalsätze locken heute keinen Kreuzberger mehr hinterm Ofen hervor. Im Festsaal jedenfalls stand man mehr auf Gaga-Humor: Thilo Knott füllte ganze drei Minuten mit der Durchsage, der „Inhaber des Lkws mit dem Kennzeichen T-AZ 1968“ möge doch bitte die Kreuzung Rudi-Dutschke/Axel-Springer-Straße frei machen. Als Theatersport ein Musical über Kinderarbeit im Manchester-Kapitalismus improvisierte, brüllten die postrevolutionären Massen.

Den Höhepunkt der Publikumsgunst nutzten Jean und Tomek, zwei junge Männer, hinter deren lässigem Kleidungsstil sich politischer Ernst verbarg. In Weißrussland gibt es noch echte Unterdrückung und Bedarf an einer Revolution. Das war die Botschaft ihres komödiantisch gebrochenen Auftritts, der die 3-Minuten-Grenze und die bei Reden übliche Lautstärke weit überschritt.

Nicht alle Darbietungen taugten zur Initiierung einer Spontandemo, doch das machte nichts. Die Profis auf der Bühne waren beeindruckt vom Mitmachwillen des Publikums, das aus Studenten, Kiezgestalten und vielen älteren Dutschke-Fans bestand. Fast jedem fiel zu Dutschke etwas ein. Der Grünen-Abgeordnete Dirk Behrendt erzählte, welch bleibenden Eindruck Dutschkes legendäres TV-Gespräch mit Günter Gaus auf ihn als jungen Mann hinterließ. Der grauhaarige Meinhart schilderte eine persönliche Begegnung mit dem Revolutionär, und Szeneaktivist Christian Specht forderte die Einführung eines Rudi-Dutschke-Gedenktags. Vorbereitet hatte sich nur taz-Redakteur Philipp Gessler, der ein gerapptes Gedicht zum Besten gab.

Zur Agitatorin der Herzen und damit Gewinnerin des Slams wurde allerdings die einzige Frau, die sich auf die Bühne traute. Madeleine, eine nicht mehr ganz taufrische Kreuzberger Göre, entzückte mit der Erzählung, wie sie „damals“ mit ihrem kommunistischen Papa im 129er-Bus an der Springer-Zentrale vorbeifuhr und der Busfahrer spontan auf die „Scheißimperialisten“ schimpfte. Die Story hatte alles: Lokalkolorit, anarchischen Witz und Springer-Bashing. Dass Madeleine, die im Nachtleben von SO 36 eine bekannte Gestalt ist, mal wieder ziemlich zugedröhnt war, heizte die Begeisterung nur noch mehr an. „Luckenwalde wird sich freuen“, kommentierte Skuppin trocken, während Madeleine wie entfesselt auf der Bühne herumsprang und in alle Richtungen das Peace-Zeichen machte.

Die ernsten Jungs und der rappende taz-Redakteur mussten sich mit Platz 2 und 3 begnügen. Doch der Slogan „Wir brauchen eine krasse / Rudi-Dutschke-Straße“ hat gute Chancen, in Kreuzberg zum geflügelten Wort zu werden. Weil er fast so einprägsam ist wie „Schafft ein, zwei, viele Vietnam“. Und weil es kaum einen schöneren Ort für die Weltrevolution gäbe als die Kreuzung Dutschke Ecke Springer.