„Du hast mein Kind gefressen!“

Wie den Philosophen Emmanuel Dotterzweig einmal sein Metzger heimsuchte

Peinlich berührt stand der Philosoph neben dem Elendshaufen

Der Fernseh-Philosoph Emmanuel Dotterzweig saß am Schreibtisch und vervollständigte seine Sammlung unappetitlicher Krankheiten. „Grindflechte, impetigo contagiosa: bakterielle, sehr ansteckende Schmierinfektion“, schrieb er auf eine Karteikarte, „Kopfgneis: seborrhoisches Ekzem: scharf begrenzte, rötliche bis rötlich-gelbliche, schuppende Herde“ auf eine andere, und sortierte sie zwischen „Demenzdyslalie“ und „Vorhautphimose“ in den Zettelkasten. Sofort spürte er Harndrang. „Merkwürdige Koinzidenz“, dachte Dotterzweig, während er sich ächzend auf dem Abort niederließ. „Ist das nun die Kant’sche Kausalität als erkenntnisimmanentes Weltgesetz oder Synchronizität als teleologisches Prinzip nach C. G. Jung? Aristoteles’ causa finales? Karma oder Kappes?“

Obwohl der Philosoph den ganzen Vormittag darüber nachgrübelte, wollte ihm partout keine Idee für eine schlüssige Conclusio kommen, geschweige denn einfallen, wie er daraus eine neue 400-Seiten-Schwarte für den Suhrkamp Verlag machen sollte. Mürrisch kratze er sich am Sack und beschloss, erstmal etwas zu essen. Er wollte sich gerade ins Souterrain begeben, wo die Fleischerei Axmann eine exquisite Bouillonwurst feilbot, als die ersten Marschtakte der Meistersinger-Ouvertüre signalisierten, dass jemand geläutet hatte.

Der Philosoph drückte eines seiner berühmten Froschaugen gegen den Türspion und sah in ein leeres fleischiges Gesicht, das ihn vage an etwas erinnerte. Habermas? Schirrmacher? Safranski? „Nee“, murmelte Dotterzweig, „die Eierköppe kenn ich doch.“ Dann dämmerte es ihm: „Bouillonwurst!“ Das war’s. Der Philosoph öffnete die Tür. „Metzgermeister Axmann, welch merkwürdige Koinzidenz, gerade …“, hob Dotterzweig an. Aber dem Fleischer stand der Sinn nicht nach Formalitäten. Mit blutunterlaufenen Augen drängte er den Philosophen zurück in die Wohnung, wuchtete seinen ochsenschweren Korpus hinterher und brüllte: „Weltekel, Mann. Ich hab solch einen Weltekel“, wobei er dem Philosophen eine Ladung unangenehmster Magenausdünstungen ins Gesicht blies.

Dotterzweig verspürte erneut unerbittlichen Harndrang, kam aber nicht dazu, dem teleologischen Aspekt dieses Phänomens auf den Grund zu gehen. Denn Axmann tigerte jetzt unter waidwundem Heulen und Fluchen durch die Wohnung, wetzte sein Schinkenspeckgesicht wie toll an Dotterzweigs Erstausgaben und riss sich büschelweise Haare aus. Schließlich sackte er geschüttelt von Weinkrämpfen in die Knie. Peinlich berührt stand Dotterzweig neben dem Elendshaufen. Er war nur Theoretiker, mit den praktischen Zumutungen des Daseins wollte er eigentlich nicht belästigt werden – und wenn, dann nur im Fernsehen und gegen Bares.

Er schenkte Axmann einen Cognac ein und hieß ihn seufzend sein Problem skizzieren. Axmann schluckte ein Pfund Rotz, dann den Cognac hinunter, schließlich sagte er: „Es geht um die Wurst.“ – „Das geht es immer“, konterte trocken der Philosoph. „Ich liebe meine Wurst“, schniefte der Metzger. „Das ist doch wunderbar“, antwortete Dotterzweig. „Sie verstehen nicht, ich habe sie umgebracht.“ – „Wen? Die Wurst?“ – „Ja, den Peter.“ Dem Philosophen fiel die Kinnlade herunter. Solchen Nonsens hatte er selbst im „Philosophischen Quartett“ noch nie gehört, und es sollte noch besser werden. Die Sache war nämlich die …

Nachdem ihm Gattin Silvia am Neujahrsmorgen die Ehegemeinschaft aufgekündigt hatte, knetete sich Metzger Axmann eine Frau aus Sülzfleisch. Aus Wut und Trotz und damit er wen zum Anstoßen hatte. Er machte ihr Augen aus Pistazien, zwei schwarze Olivenbrüste, glänzendes Remouladenhaar und zwei braune knusprige Beine aus Salzstangen. Dann öffnete er ein Bier, weinte ein wenig und taufte die Sülzfleischfrau auf den Namen Ursel wie die Schwester seiner Verflossenen. Nach sieben weiteren Bieren und einer halben Flasche Bommerlunder fand Axmann, Ursel sehe zum Anbeißen aus. Kurz nach Mitternacht machte er ihr ein Kind. Aus Teewurst. „Das war der Peter“, erklärte der Metzgermeister.

Am nächsten Morgen legte er Peter auf eine Scheibe Gerstenbrot, strich Senf drüber und aß ihn auf. Anschließend ging Axmann an sein Tagwerk. Er stopfte Brät in Därme, selchte Mettenden, hieb Koteletts aus Lämmerrippen und reichte die Ware über den Tresen, ganz so, wie er es seit 30 Jahren getan hatte. Das ging so lange gut, bis jemand ein Viertel Teewurst verlangte. Plötzlich, erzählte Axmann, habe sich Ursels Stimme in seinen Kopf gebohrt und immer wieder geschrien: „Du hast mein Kind gefressen, du Unmensch hast mein Peterle verdaut“ – und zwar so oft und laut, dass es ihm vorgekommen sei, als wüteten die Trompeten von Jericho zwischen seinen Hirnlappen. Seitdem könne er keine Wurst mehr sehen, allein bei der Erwähnung werde ihm kotzübel.

Der Philosoph goss dem Metzger noch einen Cognac ein, empfahl ihm einen Nervenarzt und riet zu einem Berufsunfähigkeitsantrag. Ein halbes Jahr später erschien bei Suhrkamp sein Buch „Teewurst und Thanatos – ein politisch-psychologischer Versuch“ und wurde selbstverständlich ein Bestseller.

MICHAEL QUASTHOFF