„Lohnende Inspirationsquelle“

SCHULE Die von den Nazis geschlossenen Bremer „Versuchsschulen“ erprobten Selbstbestimmung, Projektarbeit und den sozialen Aufstieg. Ihr Erbe ist aktuell

■ 64, Lehrerin und Bildungsforscherin, war bis 2007 Leiterin des Bremer Schulmuseums.

Interview: HENNING BLEYL

taz: Frau Nitsch, die 1933 geschlossenen Bremer Versuchsschulen sind etwas in Vergessenheit geraten. Bieten sie Anknüpfungspunkte für die heutige schulpolitische Debatte?

Ulla Nitsch: Ganz gewiss. Die Versuchsschulen in der Schleswiger, Stader und Helgoländer Straße stellten den ersten Versuch dar, innerhalb des staatlichen Schulsystems die Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt zu rücken. Der Anspruch, den sozial und familiär vorgegebenen Zukunftsrahmen nicht zu reproduzieren war neu und ist auch heute wichtig.

Die Versuchsschul-Praxis stellte einen krassen Bruch mit dem wilhelminischen Unterrichtsstil dar. Aber wie viel Differenz gibt es zwischen den heutigen Schulen und der historischen „Latte“, die die Versuchsschulen gehängt haben?

Von den dort entwickelten Lernformen, der Vernetzung mit Stadtteil, Kulturlandschaft und Betrieben kann man sich auch heute etwas „abgucken“ beziehungsweise sich im eigenen pädagogischen Verständnis bestärken lassen. Ausgeprägt war die Schuldemokratie: Die SchülerInnen stellten einen Teil der Regeln selber auf sorgten für deren Einhaltung. Sie übernahmen Verantwortung für einen auf Selbständigkeit basierenden Unterricht und für das Schulleben. Sie lernten gemeinsam, schrieben für ihre Schulzeitungen, gestalteten Aufführungen und Feste oder kümmerten sich um die Verwaltung des Materials für künstlerische Arbeit oder die Ordnung in der Schule.

Als Pisa noch in Italien lag war Bremen ein Vorreiter der reichsweiten Versuchsschul-Bewegung. Könnten wir unser „Finnland“ also auch in der eigenen Schulgeschichte finden?

Durchaus. Es ist beispielsweise beeindruckend, wie intensiv sich die Versuchschul-Kollegien fortbildeten, wie man gegenseitig im Unterricht hospitierte und sich unterstützte. An Hand der Verbotslisten von 1933 lässt sich rekonstruieren, wie umfangreich entwicklungspsychologische Literatur genutzt wurden. Zugleich suchten die Kollegien den intensiven Austausch mit der übrigen Lehrerschaft.

Dass das Schulmuseum mit seinem Versuchsschul-Material und die „Kinderschule“ Auf der Hohwisch unter einem Dach sind, ist Zufall. Sehen Sie trotzdem strukturelle Verwandtschaften?

So zufällig ist diese Nachbarschaft gar nicht – jedenfalls war ich seinerzeit als Leiterin des Schulmuseums sehr dafür, dass die Kinderschule mit einzieht. Es gibt viele Gemeinsamkeiten mit den damaligen Versuchsschulen, etwa in der Projektorientierung, der Betonung praktischer Tätigkeiten oder der intensiven Einbeziehung der Eltern.

Von den Versuchsschul-Eltern wurden sogar ganze Landschulheime in Eigenarbeit errichtet.

Diese ersten Schullandheime sind in der Tat eine beeindruckende Leistung der drei Schulgemeinden. Dabei umfasste „Schulgemeinde“ neben den SchülerInnen und Lehrkräften oft die gesamten Familien.

Warum wurden die Versuchsschulen 1945 nicht reanimiert?

Der Neuanfang der bremischen Schulpolitik wurde im Wesentlichen von Versuchsschullehrkräften und von der reformpädagogisch orientierten Education Division der amerikanischen Besatzungsmacht bestimmt. Man wollte die Erfahrungen aus den Versuchsschulen verallgemeinern und initiierte beispielsweise die sechsjährige Grundschule. Auf Drängen von FDP und CDU wurde es aber Ende der 1950er Jahre möglich, bereits nach vier Jahren aufs Gymnasium zu wechseln. Damit wurde das Modell der sechsjährigen Grundschule unterlaufen.

Wie viel Versuchsschule steckt heute noch im Bremer Schulsystem?

Viele Bremer Schulen orientieren sich neu, erproben zeitgemäße Unterrichtsinhalte und Lernformen und vernetzen sich im Stadtteil. Andererseits habe ich Zweifel, ob es bei den verschulten Bachelor-Studiengänge möglich ist, dass die künftigen LehrerInnen reformpädagogische Ansätze mit ihrem selbsttätigen Lernen aufnehmen. Die aber sind für die Realisierung der jetzt in Bremen gesetzten schulpolitischen Ziele notwendig. Und dafür lohnt es sich auch, die Bremer Versuchsschulen als Inspirationsquelle weiter im Blick zu behalten.

„KinderSchule – ZukunftsSchule“: Kommenden Mittwoch, 19.30 Uhr, zeigt Ulla Nitsch im Schulmuseum Auf der Hohwisch „Bilder und Befunde aus den Bremer Reformschulen der 1920er Jahre“