Raus aus der Provinz

von ANDREAS RÜTTENAUER

Das Spiel ist ausverkauft. Deutschland spielt am kommenden Freitag in Berlin gegen Brasilien. Es ist die Eröffnungspartie der Handball-Weltmeisterschaft. Der internationale Spitzenhandball macht eine Stippvisite in der Hauptstadt. Normalerweise wird in der Max-Schmeling-Halle nur Zweitliga-Kost präsentiert. Berlin ist Handballprovinz – die Handballmetropolen finden sich in der Provinz.

Bob Hanning ist einer, der das ändern will. Der ehemalige Bundesligatrainer arbeitet als Manager der Reinickendorfer Füchse am Projekt Spitzenhandball für die Hauptstadt. Mit leuchtenden Augen erzählt er vom Potenzial, das in der Sportart liegt. „Es kann nicht sein, dass in Berlin kein Bundesligahandball möglich sein soll“, sagt er. Seine Mannschaft steht auf Platz eins der Zweitligatabelle, und doch hat er Angst, dass sich auch nach einem Aufstieg nicht allzu viele Berliner zum Besuch eines Handballspiels bewegen lassen. Von der Weltmeisterschaft hat er sich viel erhofft, einen Schub für den ganzen Sport. Eine Woche vor Beginn der WM ist Hanning ernüchtert. „Das wird kein Wintermärchen“, befürchtet er. Die Organisatoren vom Deutschen Handballbund (DHB) hätten die Chance nicht genutzt, etwas ganz Besonderes zu schaffen. „Ich erwarte ein schöne WM, in vollen Hallen“, sagt Hanning. Und: „Es wird eine familiäre Weltmeisterschaft.“ Die Handballgemeinde wird wohl unter sich bleiben.

Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Promit, die am Donnerstag veröffentlicht wurde, bestätigt Hannings Befürchtungen. Danach wissen 70 Prozent der Deutschen nicht, wo die nächste Handball-WM stattfindet. Horst Bredemeier, Vizepräsident des DHB und verantwortlich für die Vermarktung der WM, findet das halb so schlimm. „Man muss bedenken, mit welchen Mitteln wir arbeiten“, sagt er. Ulrich Strombach, DHB-Präsident und Cheforganisator des Championats, verbittet sich jeden Vergleich mit der Fußball-WM. „Ich erwarte keinen Wintertraum als Folge des Sommermärchens“, sagt er. 800.000 Euro beträgt der Marketing-Etat der WM. Da könne man nicht allzu viel erwarten, sagt auch Uwe Schwenker, der Manager des Bundesligisten THW Kiel.

Er hat die Stadt an der Förde zur Hauptstadt des deutschen Handballs gemacht. Zwölfmal ist der THW inzwischen deutscher Meister geworden. Die Ostseehalle ist immer bis auf den letzten Platz gefüllt, wenn der THW zum Heimspiel lädt. Es wird getrommelt und geklatscht, es ist laut. In Flensburg ist das nicht anders. Auch unmittelbar an der dänischen Grenze ist Handball die Sportart Nummer eins. „Hölle Nord“ nennen die Fans in Flensburg ihre Arena. Typische Handballstimmung, mit lautem Klatschen zum Rhythmus der Taktgeber an riesigen Trommeln herrscht auch im westfälischen Lemgo. In Magdeburg, wo der Champions-League-Sieger des Jahres 2002 zu Hause ist, wird ebenso Stimmung gemacht wie in Wetzlar. Rhythmisch geklatscht wird auch in Göppingen, Melsungen und Nordhorn.

Die Nationalspieler, auf denen die Hoffnungen der deutschen Handballgemeinde in den nächsten Wochen ruhen, haben ihre ersten Spiele für Mimmenhausen (Markus Baur), die TG Kastel (Pascal Hens) oder TuSpo Obernburg (Dominik Klein) gemacht. „Wir sind die zweitgrößte Ballsportart in Deutschland“, wird Frank Bohmann, Geschäftsführer der Handballbundesliga (HBL), nicht müde zu betonen. Beinahe 830.000 Menschen sind in deutschen Handballvereinen registriert. Vom „Potenzial“, das in der Sportart liegt, spricht nicht nur Zweitliga-Zampano Hanning, auch Meistermanager Schwenker nimmt das Wort gerne in den Mund. Handball, der Sport, der einst von der Turnbewegung erfunden wurde und lange als der typische deutsche Spielsport galt, ist der Jugend nicht mehr so leicht zu vermitteln wie ehedem. Basketball spricht die Kids mehr an. Alley Hoops am Korb kommen besser an als der Kempa-Trick am Kreis. Der Sport, der berüchtigt ist wegen seiner zupackenden Verteidiger und bestaunt wird wegen der wuchtigen Rückraumschützen, hat ein Altersproblem. HBL-Chef Bohmann weiß das. „Wir haben bei der jüngeren Generation Nachholbedarf“, sagt er. Handball ist nicht hip.

Projekt Großstadthandball

Auch deshalb ist der Absprung in die Hallen der ganz großen Städte nie so recht gelungen. Versuche, den Sport in den Metropolen zu installieren, gab es regelmäßig. Ebenso regelmäßig scheiterten sie. Der HSV Hamburg ist das jüngste Beispiel für den Versuch, den Handball weltstädtisch aufzuziehen. Der deutsche Pokalsieger spielt seit 2002 in der Bundesliga. Damals ging der langjährige Erstligist VfL Bad Schwartau im neu gegründeten HSV Handball auf. Als Retortenklub ohne Unterbau tat sich der HSV lange schwer, Publikum in die moderne Halle in unmittelbarer Nachbarschaft zum großen Hamburger Fußballstadion zu locken. Schulden wurden angehäuft, Betrügereien in Umfeld der Geschäftsstelle ruchbar. Der HSV war ein echter Skandalklub. Während die Traditionsklubs an der Tabellenspitze ein Geflecht von zahlreichen meist regionalen Sponsoren aufgebaut haben, ist der HSV auf das Wohlwollen von Andreas Rudolph, einem Unternehmer aus der Medizintechnikbranche, angewiesen. Der wird sich überlegen, ob er sein Engagement fortsetzt, wenn weiterhin bei fast allen Heimspielen mehr als die Hälfte der 13.000 Plätze in der Hamburger Arena freibleiben. HSV-Vorstand Dierk Schmäschke wähnt das Projekt auf dem richtigen Weg: „Wir haben sogar zwei Fanklubs!“ Noch ist man guter Dinge in Hamburg, auch weil die Geschäftsführung weiß, dass das Projekt Großstadthandball von höherer Stelle ausdrücklich unterstützt wird.

Denn eines der großen Ziele der HBL ist es, den Sport endgültig herauszuführen aus der Provinz. Handball soll zum Metropolen-Event werden. Die Idee ist nicht neu. Und schon ein paar mal gescheitert. In München zum Beispiel. Dort gingen vor gut 20 Jahren zwei ehrgeizige Handballprojekte ein. Der TSV Milbertshofen und der MTSV Schwabing, beide immerhin Pokalsieger, sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Vor allem die Schwabinger wollten die große Show um den Handball inszenieren. Sie wollten dem Mattenschweiß, der in den ausgebauten Schulsporthallen der Provinz den Geruch bei Bundesligaspielen dominiert hat, Glamour entgegensetzen. Unvergessen ist die Szene, als vor einem Spiel gegen den TV Großwallstadt Kühe durch die Halle getrieben wurden. Man wollte zeigen: Hier spielt die Stadt gegen einen Klub vom Kaff. Das Engagement zweier Mäzene brachte München eine kurze sportliche Blüte. Lange ist’s her. Liga-Chef Bohmann stellt heute fest: „München ist Handball-Niemandsland“. Das letzte Testspiel der deutschen Mannschaft vor der WM am vergangenen Samstag gegen Ägypten (29:30) in der Olympiahalle war ein rares Gastspiel des Spitzenhandballs in der Landeshauptstadt.

Den TV Großwallstadt indes gibt es immer noch. Er ist einer jener traditionellen Handballklubs, die sich seit Jahren schwer tun, mit der Professionalisierung der Handballszene in Deutschland Schritt zu halten. Der Liga-Chef sähe es wohl gerne, wenn der „kleine Klub“ (O-Ton Bohmann) nach München umzöge. Doch der TVG will sich nicht verpflanzen lassen. Als in der Bundesliga noch Amateursport betrieben wurde, holte Großwallstadt einen Meistertitel nach dem anderen, zweimal sogar den Europapokal der Landesmeister. 1990 war Großwallstadt zum letzten Mal deutscher Meister. Bald danach verschwand der Klub in den Niederungen der Ligatabelle. Die kleine Sporthalle in Elsenfeld war in den mageren Jahren nur selten gut besucht. Es floss zu wenig Geld, um einem Klub wie Kiel, für den haufenweise teure Spieler aus dem Ausland auf dem Parkett stehen, etwas entgegenzusetzen. Inzwischen hat sich der TVG auf bescheidenem Niveau konsolidiert. Die Angst vor dem ganz großen Absturz gibt es nicht mehr. Man hat sich eingerichtet im Mittelmaß.

Gummersbach ist Trendsetter

Das ist beim VfL Gummersbach anders. Lange Zeit dümpelte der deutsche Rekordmeister im Mittelfeld der Bundesliga herum. Gummersbach holte zuletzt 1991 den Titel. Doch immer noch lebt der deutsche Handball von den großen Gummersbachern. Bundestrainer Heiner Brand hat einst dort gespielt und DHB-Präsident Ulrich Strombach kommt ebenfalls aus Deutschlands bekanntester Handball-Gemeinde. Lange zehrte man im Bergischen von der Geschichte, bis in der vergangenen Saison mit der Qualifikation zur Champions League wieder Anschluss an die nationale Spitze gefunden wurde. 2.200 Fans fasst die heimische Eugen-Haas-Halle. Dennoch kamen zu den acht Heimspielen des VfL in dieser Saison im Schnitt mehr als 7.000 Zuschauer. Die Köln-Arena, die Platz für 19.000 Zuschauer bietet, ist zur zweiten Heimspielstätte des Klubs geworden. Die wichtigen Spiele trägt Gummersbach nun im etwas mehr als 50 Kilometer entfernten Köln aus. Der VfL könnte zum Trendsetter werden, was den sachten Export der Provinzsportart Handball in die Großstädte betrifft. Das Wichtigste sei aber immer noch der Sport selbst. Torwart-Legende Andreas Thiel ist sich sicher: „Ein gutes Handballspiel ist nicht von der Hallengröße abhängig.“ Thiel, auch er ein Gummersbacher, ist Torwarttrainer der Nationalmannschaft. Das Finale der Weltmeisterschaft wird am 4. Februar in Köln angeworfen. Ausverkauft ist es schon jetzt. Sollten die Deutschen das Endspiel erreichen, wird ein Ort wieder einmal ganz oft genannt werden: Gummersbach. Typisch Handball.