die taz vor 10 Jahren über deutsches und israelisches Geschichtsverständnis
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Nach einem in den dreißiger Jahren oft erzählten Witz werden die jüdischen Neuankömmlinge in Palästina als erstes gefragt: „Kommen Sie aus Überzeugung oder kommen Sie aus Deutschland?“ Die zionistische Idee hatte im assimilierten Milieu der deutschen Juden nur schwache Wurzeln geschlagen, und der Weg nach Palästina war nicht Aufbruch ins Land der Väter, sondern Flucht vor der Vernichtung. Es war der Völkermord an den Juden, der dem Zionismus nachträglich Kraft und Legitimation verlieh. Für einen Deutschen kann der Gedanke, seine Väter und Vorväter bis zu Hermann dem Cherusker seien stets um ihn, nur zu einem starken Anfall von Unwohlsein führen. Für Israels Staatspräsident Eser Weizman, der derzeit Deutschland besucht, ist der gleiche Gedanke, die spirituelle Anwesenheit aller Generationen seit Abraham, Quelle der Hoffnung, Antrieb zum Handeln.

Unsere Haltung gegenüber unserer Geschichte, unsere „Geschichtslosigkeit“, mag von Flucht und Opportunismus geprägt sein. Aber in ihr steckt auch das Bewußtsein, neu anfangen zu können. Dieses „neu anfangen“ schließt nicht aus, Verantwortung für eine Schuld zu übernehmen, die individuell nicht zurechenbar ist.

Die unterschiedliche Auffassung von national-kultureller Identität zwischen einem überzeugten Zionisten wie Weizman und Deutschen, denen ihre geschichtliche „Verortung“ fragwürdig geworden ist, muß überhaupt nicht zu Irritation führen. Wir können aus diesem Unterschied lernen, vor allem über uns. Aber wir sollten, auch gegenüber Eser Weizman, darauf bestehen, daß es andere legitime Formen des Verhältnisses zu Nation und Geschichte gibt als die von ihm praktizierten. Wenn Juden sich aus diesem anderen Verständnis heraus entschlossen haben, als Deutsche unter Deutschen zu leben, sollte der israelische Staatspräsident Eser Weizmann ihre Haltung respektieren.Christian Semler in der tazam 17. 1. 1996