Schlafwandeln in NYC

Einsamkeit und Ekstase in der nächtlichen Großstadt: Der Medienkünstler Doug Aitken sorgt mit einer gigantischen Videoinstallation am Museum of Modern Art für das Kunstereignis dieses Winters

von DANIEL SCHREIBER

Pünktlich zum Kunstereignis der Saison kam in New York der lang erwartete Wintereinbruch. Statt in den leichten Pullis, an die man sich während der frühlingshaften Temperaturen der letzten drei Monate gewöhnt hatte, drängte sich der internationale Journalistenschwarm, gewappnet mit Fernsehkameras, Fotoapparaten, Mikrorekordern und Notizblöcken, in dicken Mänteln und Wollschals im Sculpture Garden des Museum of Modern Art. Was MoMA-Direktor Glenn Lowry zu dem Kommentar veranlasste, er sei froh darüber, dass das Global Warming für diesen Abend eine Pause gemacht hätte; die Klarheit der Winternacht passe entschieden besser zu den Videobildern von Doug Aitken. Glenn Lowry bekam Recht, als kurze Zeit später auf Yoshio Taniguchis Zen-gleichen Museumsbau aus weißem Beton, schwarzem Granit und semitransparenten Hüllwänden die achtteilige Projektion mit bis zu dreißig Metern Breite und zehn Metern Höhe gebeamt wurde. Mit ihren überwältigenden Ausmaßen und ihren organischen Bilderrhythmen übte die Videoinstallation des 38-jährigen kalifornischen Künstlers über eine Nacht von fünf New Yorkern einen solchen Sog aus, dass einen nur eine frostige Windböe aus der gesundheitsgefährdenden Hypnose reißen konnte.

Aitken selbst nennt „sleepwalkers“ – ein Zyklus unendlich kombinierfähiger 13-Minuten-Videoloops – „einen Stummfilm für das 21. Jahrhundert“. In der Tat, wie kein anderer Film zuvor spiegelt die filmische Installation die urbane Erfahrung des neuen Jahrtausends wider. Der brasilianische Sänger und Schauspieler Seu Jorge („City of God“) spielt einen Elektriker, der Leuchtreklametafeln am Times Square repariert; die schauspielernde Indie-Rockerin Cat Power („V for Vendetta“) gibt eine Briefe sortierende Postfrau; Schlagzeuger und Schauspieler Ryan Donowho („Broken Flowers“) ist ein Fahrradkurier in der Bronx; Indie-Film-Diva Tilda Swinton porträtiert eine schwangere Bürokraft, deren Leben sich in Auflösung befindet; und Hollywood-Grandsenior Donald Sutherland stellt einen in sich gekehrten Manager dar.

In minutiös abgestimmter Synchronizität sieht man sie aufstehen, duschen, sich anziehen und zur nächtlichen Arbeit gehen. Die Wahl von Espresso, Billig-Tee oder Orangensaft oder die Fortbewegung mit U-Bahn, Fahrrad oder Limousine markiert die auffälligen sozialen Unterschiede zwischen den fünf Figuren. Was aber alle verbindet, ist ihre Einsamkeit – jene Einsamkeit, wie man sie nur in der Großstadt erleben kann, wo das Gefühl der Isolation zugleich aufgehoben und verstärkt wird.

Aitken ist spätestens seit seinem preisgekrönten „Electric Earth“-Project auf der Biennale in Venedig 1999 auch in der europäischen Kunstwelt ein großer Name. In Deutschland ist er vor allem seit seiner Werkschau in den Berliner Kunst-Werken 2002 unter der Regie von Klaus Biesenbach bekannt. (Klaus Biesenbach hat auch „sleepwalkers“ für das MoMA kuratiert, zusammen mit Peter Eleey vom Projekt „Creative Time“, einer gemeinnützigen Organisation für Kunst im öffentlichen Raum.) Das Markenzeichen des Medienkünstlers sind filmische Black-Box-Installationen, in denen die Leinwand auf mehrere, im Raum verteilte Projektionsflächen verteilt wird und in denen oft ein meditativer, rhythmischer Sound aus Erzählstimmen und Atemgeräuschen aus verschiedenen Lautsprechern kommt. Die so aufgebrochene Linearität des Erzählens bleibt dabei als Kunsterfahrung überraschend zugänglich, auf eine fast instinktive Weise einsehbar, spiegelt sie doch die Multiplizität und Fragmentiertheit unserer Alltagserfahrung wider. Auch thematisch bleibt Aitken dicht an der condition post-postmoderne. Seine Arbeiten handeln von Menschen, die sich an die beschleunigte Veränderung ihrer Umwelt anpassen, von elektrifizierten Landschaften und von unserer Wahrnehmung, die sich durch die neuen Medien unwiderruflich verändert.

In „sleepwalkers“, das den Gebäudekomplex des MoMA in die größte Videoinstallation der Kunstgeschichte verwandelt, kommen diese Facetten zusammen. Um die Installation ganz zu sehen, muss man sie in verschiedenen Routen von der 53. und 54. Straße her begehen, wobei sich immer wieder neue Blickperspektiven eröffnen. Die Wahrscheinlichkeit, alle Bildkombinationen der computergesteuerten Zufallsverteilung zu sehen, ist dabei sehr gering. Wie im wirklichen Leben gibt es keine klar definierten Anfänge, keine deutlich markierten Schlüsse und keine hundertprozentig korrekten Blickperspektiven.

In der fulminanten New Yorker Nacht erinnert das Kunstprojekt auch an die überbordenden Leuchtreklamen am Times Square oder an die futuristische Stadtlandschaft Tokios. Anstatt Kinowerbung oder Nike-Spots begegnet der Betrachter freilich Leinwandcharakteren, die sich in derselben nachtwandlerischen Situation befinden wie er selbst.

Nicht umsonst dreht sich ein Erzählstrang von Aitkens Video um die Instandhaltung dieser glitzernden Werbewelt. Alle fünf Erzählstränge werden immer wieder durch blinkende Detailaufnahmen einzelner Glühbirnen, Pixel und digitaler Details der Werbetafeln synkopiert. Sie ziehen sich als steter Rhythmus durch die Videoloops und durch die Leben der porträtierten Figuren. Doch der bestimmende Rhythmus der Videoloops ist der Herzschlag New Yorks, der mit jeder Szene spürbarer wird, bis die Figuren voll und ganz eins werden mit den energetischen Schwingungen der Metropole. Die Videos enden mit ekstatischen Momenten, in denen sich die fünf New Yorker Figuren in den Energien ihrer Stadt aufzulösen scheinen.

Offensichtlich ist „sleepwalkers“ eine melancholische Hommage an die Stadt, die bekanntlich niemals schläft, und an ihre Bewohner. Jede Figur steht für einen Bezirk der Metropole. Doug Aitken hat seine Videoszenen zum Teil in den entlegensten Winkeln gefilmt, in einem stillgelegten Brooklyner U-Bahn-Schacht zum Beispiel, auf einem Eislaufring in Staten Island oder in der elektrischen Kabelwüste hinter den besagten Leuchtreklamen am Times Square. Diese metaphorische Verbeugung dürfte auch ein Grund für die großzügige Unterstützung des Projekts durch Bürgermeister Michael Bloomberg gewesen sein. Mit der zwanghaft bemühten Öffentlichkeitsnähe des erfahrenen Politikers fügte er hinzu, dass das Kunstprojekt für seine Zuschauer „spaßig, faszinierend und vor allem kostenlos“ sei. Doug Aitken selbst, augenscheinlich geschockt von den Fernsehkameras und der massiven Ansammlung von Journalisten, meinte nur, dass er wohl eine Rede halten müsse, aber im Moment einfach nur sprachlos sei.

Bis 12. Februar, MoMA