Merkel ganz schön links

Mit ihrer Antrittsrede vor dem EU-Parlament stößt die Ratspräsidentin bei den Liberalen auf Kritik. Grüne träumen dagegen von Duo Merkel/Royal

„Das Wort ‚sozial‘ kam bei Merkel doppelt so oft vor wie das Wort ‚wettbewerbsfähig‘“

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Es ging zu wie beim Familientreffen: Auf dem Roten Teppich in Straßburg begrüßte Hans-Gert Pöttering als neuer Parlamentspräsident seine langjährige Parteifreundin Angela Merkel. „Ihre Persönlichkeit symbolisiert den Wandel auf unserem europäischen Kontinent“, deklamierte er wenig später in dem ihm eigenen leicht übertriebenen Tremolo. „Sie sind die erste Präsidentin des Europäischen Rates aus dem früheren unfreien Teil Europas!“ Merkel schien dieser Ehrentitel leicht unbehaglich, doch sie griff den Faden dann selber auf: „In der Europäischen Union bin ich noch eine Jugendliche. Erst vor 17 Jahren nach der Überwindung des Sozialismus bin ich in die Union aufgenommen worden.“

Ihre Redenschreiber hatten ihr Antritts-Statement, von dem sich viele Hinweise auf die „Berliner Erklärung“ erhofften, rund um den Begriff „Toleranz“ gewoben. „Europas Seele ist die Toleranz, Europa ist der Kontinent der Toleranz. Um das zu lernen, haben wir Jahrhunderte gebraucht.“ Freiheit sei die Voraussetzung für Europas Vielfalt – sei es nun Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit oder die Freiheit des Unternehmertums.

Am Ende gab Hans-Gert Pöttering mit ausdauerndem rhythmischem Klatschen seinen Abgeordneten die Linie vor. Dieser lange Beifall belege ja wohl, dass es eine große Rede gewesen sei, erklärte er. Parteifreund Barroso schloss sich in vorher einstudierten deutschen Sätzen den Freundlichkeiten an. Die Vorsitzenden der anderen Parteien allerdings beurteilten Merkels Worte kritischer.

Eine Rede über die Freiheit sei ja gut und schön, meinte Sozialistenchef Martin Schulz. „Aber Freiheit von Angst und sozialer Bedrohung ist die Grundvoraussetzung, um die anderen Freiheiten zu verwirklichen“, rief er Merkel zu. Graham Watson, dem Vorsitzenden der Liberalen, war Merkels Rede dagegen viel zu links. „Ich bin enttäuscht, dass das Wort ‚sozial‘ doppelt so oft vorkam wie das Wort ‚wettbewerbsfähig‘“, zählte er der verblüfften Kanzlerin vor. Und die „netten Worte über Toleranz“ seien wenig wert, wenn weder das Anliegen für besseren Datenschutz noch Hilfe für strandende Flüchtlinge eine Rolle spiele.

Daniel Cohn-Bendit schließlich löste bei der neuen Ratspräsidentin unwilliges Kopfschütteln aus, als er das Fehlen eines Rosa-Luxemburg-Zitats in ihrer Rede bemängelte. Diese großartige Frau habe schließlich die gleichen schönen Worte zum Thema Toleranz gefunden wie der von Merkel zitierte Franzose Voltaire. Damit war der grüne Fraktionschef beim Thema Frauen gelandet und kam ins Träumen: „Wie Sie Hand in Hand und Wange an Wange mit Ségolène Royal in Berlin spazieren gehen – es wird vielfältig werden, herrlich …“ Wie Merkel allerdings mit ihrer „Sherpa-Politik“ den Verfassungsprozess wieder ankurbeln wolle, bleibe ihre Geheimnis. Schließlich hätten die Regierungen die Verfassung schon einmal ruiniert, davon brauche man keine Neuauflage. Das Lächeln auf dem Gesicht Merkels hatte da längst tiefer Empörung Platz gemacht.