Der Nationalist

Koštunica forderte einst mehr Demokratie: „Wir müssen das legale System wiederherstellen“„Das Kosovo müssen wir gemeinsam verteidigen: jeder Bürger, das ganze Volk“, verlangt er heute

AUS BELGRAD ERICH RATHFELDER

Noch vor einigen Jahren wirkte der serbische Ministerpräsident Vojislav Koštunica gebremst, linkisch und ein bisschen verklemmt. Er stotterte des Öfteren, etwas glatt kam er daher, in Anzügen, die nie verknittert schienen. Im jetzigen Wahlkampf hat sich der schlanker gewordene, dunkelhaarige Koštunica frei gesprochen. Selbstbewusst ist er geworden, kämpferischer. Der Vorsitzende der Serbischen Demokratischen Partei (DSS) fühlt sich im Aufwind. Serbien steht wieder einmal vor einer entscheidenden Wahl. Und der seit 2004 ein Minderheitenkabinett anführende Koštunica will auch nach der Wahl an diesem Sonntag das Land regieren.

Als konservativen Demokraten definiert sich Koštunica selbst gerne. Doch Zuschreibungen dieser Art bleiben in diesem Land unangemessen. Im politischen Spektrum Serbiens haben sich eigenständige politische Koordinaten entwickelt. Wer sich konservativ, demokratisch, sozialdemokratisch oder liberal nennt, braucht deshalb keineswegs den mitteleuropäischen Definitionen zu entsprechen. Als Jurist fordert der serbische Demokrat Koštunica zum Beispiel seine Landsleute auf, sich an die Gesetze zu halten – und appelliert an irrationale nationale Gefühle. Er will das Land nach Europa führen – und lässt gleichzeitig vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gesuchte Kriegsverbrecher im Untergrund gewähren. Koštunica trägt in seiner Person viele Widersprüche seiner Gesellschaft in sich.

Wie will Serbien sich in dem immer weiter zusammenwachsenden Europa verorten? An der Frage Europa definieren sich die Parteien und politischen Strömungen. Die Gesellschaft ist zerrissen und tief gespalten. Gut ein Drittel der Bevölkerung will bedingungslos nach Europa, die Lasten der Vergangenheit abstreifen und die noch halbsozialistische Wirtschaft modernisieren. Ein anderes Drittel hängt an den nationalistischen Vorstellungen der Vergangenheit, will weiter an dem Traum eines großen Serbiens festhalten. Und der Rest neigt sich einmal auf diese, dann wieder auf die andere Seite – Koštunica ist ihr Repräsentant. An ihm entscheidet sich, welchen Weg das Land nimmt. Wer ist also der Mann, der den Anspruch hat, Serbien aus der Krise zu führen?

In Belgrad 1944 in einer bürgerlichen Familie geboren, durchlief der junge Koštunica eine ganz normale Karriere im damaligen Jugoslawien, machte Abitur, begann sein Studium der Jurisprudenz. Er war niemals Mitglied des Kommunistischen Bundes Jugoslawiens, lebte seit Mitte der Siebzigerjahre als Universitätsprofessor mit Frau, einer Rechtsanwältin, mit Katzen und Hunden, beschaulich im Zentrum Belgrads. Politisch war er nur einmal aufgefallen, als er sich 1974 gegen die neue Verfassung des Landes stellte – aus nationalistischen Gründen. Denn die Verfassung gab den Minderheiten im damaligen Jugoslawien mehr Rechte. Und verankerte ein Autonomiestatut für das von Serbien beanspruchte, aber mehrheitlich von Albanern bewohnte Kosovo.

Erst Ende der 90er-Jahre trat Koštunica wieder in Erscheinung. Zusammen mit dem späteren Premierminister Zoran Đinđić gründete er 1989 die Demokratische Partei, die eine Demokratisierung der Gesellschaft anstrebte. Die demokratische Bewegung lehnte den vom damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević geführten Krieg ab. Nationalisten und Extremisten strebten damals zusammen mit Milošević die Gründung eines großen Serbiens an, in dem alle von Serben bewohnten Gebiete in Kroatien und Bosnien-Herzegowina eingeschlossen sein sollten.

Da aber in diesen Regionen gemischte Bevölkerungen lebten, versuchte das Regime, alle Nichtserben aus den beanspruchten Gebieten mit Gewalt zu vertreiben. Die Verbrechen der „ethnischen Säuberungen“ waren zwangsläufiges Ergebnis der Politik ihres Präsidenten, wie standfeste serbische Demokraten, etwa die „Frauen in Schwarz“, bei Demonstrationen schon damals warnten.

Viele, vielleicht sogar die Mehrheit der demokratischen Opposition war jedoch nach den Siegen der ersten Kriegsjahre von der weit verbreiteten nationalen Euphorie angesteckt. Auch Koštunica. Nach Beginn des Krieges in Bosnien 1992 verließ er die Demokratische Partei und gründete seine Serbische demokratische Partei. Das Attribut war Programm. Erst nach den Niederlagen der Serben in Kroatien und Bosnien 1995 näherten sich die beiden Strömungen der Demokraten wieder an. Als die Nato Serbien 1999 wegen der Verbrechen Milošević’ im Kosovo sogar militärisch angriff, war die Zeit reif für den Machtwechsel hin zu den Demokraten.

Im September 2000 gelang es Koštunica zusammen mit Đinđić als Spitzenkandidat der Demokratischen Opposition, Milošević bei den Wahlen zu schlagen. Als der nicht abtreten wollte, kam es in Belgrad zum Aufstand. Am 5. Oktober wurde Milošević gestürzt. Und ein Jahr später an das UN-Kriegsverbrechertribunal nach Den Haag ausgeliefert. Der neue Präsident Serbiens, Koštunica, stand damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Er galt mit seinem Premierminister Đinđić als demokratischer Hoffnungsträger weit über die Grenzen seines Landes hinaus. Koštunica forderte damals: „Wir müssen das legale System wiederherstellen.“

Seitdem hat sich viel geändert. Im März 2003 ermordeten Mitglieder der berüchtigten Spezialpolizei des Innenministeriums Premierminister Đinđić. Es war auch ein Zeichen an Koštunica. Das nationalistische Lager fürchtete, die Regierung der Demokraten könnte das von der UN verwaltete Kosovo aufgeben.

Koštunica war in der Zwickmühle. Nach den Wahlen im März 2004 wurde Koštunica Ministerpräsident. Er beendete die Koalition mit der Demokratischen Partei und bildete ein Minderheitenkabinett. Es stützte sich zwar auf Reformer und Proeuropäer wie die Gruppe „G-17plus“ und die Serbische Erneuerungsbewegung. Es wurde aber auch von der ehemaligen Milošević-Partei, den Sozialisten, geduldet. Die rechtsextreme Radikale Partei des in Den Haag einsitzenden Vojislav Šešelj wurde mit gut einem Drittel der Stimmen zur stärksten Partei im Parlament. Die Radikalen wollen für das Kosovo kämpfen und sehen die gesuchten Kriegsverbrecher als Helden an.

Koštunica beendete fortan die Konfrontation mit den Kräften des alten Regimes und der Radikalen Partei. Mehr noch, er übernahm manche ihrer Positionen. Zwar hielt er sich mit Kommentaren über extremistische Forderungen der Radikalen zurück – etwa die verlorenen Gebiete in Kroatien zurückzuerorbern und die serbische Teilrepublik „Republika Srpska“ in Bosnien und Herzegowina mit Serbien zu vereinigen.

Doch im Hintergrund und nach und nach stärkte Koštunica diese nationalistische Position. In dem mit Serbien durch eine Föderation verbundenen Montenegro versuchte er alles, um die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Montenegros im letzten Mai zu beeinflussen. „Er war sehr frustriert, als dies nicht gelang und Montenegro unabhängig wurde,“ sagt ein Mitstreiter.

Doch seither ist er in Bezug auf Bosnien und das Kosovo in großserbischem Sinne aktiver geworden. So ließ er Stimmen aus seinem Kabinett freien Lauf, die eine Volksabstimmung in der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina mit dem Ziel fordern, die „Republika Srpska“ mit Serbien zu vereinigen. Und er hat in Bosnien einen Mitstreiter gefunden: Milorad Dodik. Der Chef der Serbischen Sozialdemokraten in Bosnien und Herzegowina hat vor seinem überwältigenden Wahlsieg bei den Serben Bosniens im Herbst mit ebendieser Strategie geworben.

Logisch, dass Koštunica bei den im Februar 2006 begonnenen Statusverhandlungen über das Kosovo hart blieb. Er will zwar eine Autonomie, jedoch keine Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien zugestehen. Als sich im vergangenen Herbst innerhalb der UN die Waage zugunsten der Unabhängigkeit des Kosovo zu neigen schien, setzte er im November eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung durch, in der alle künftigen serbischen Regierungen verpflichtet werden, am Kosovo festzuhalten. Und er gewann Russland dazu, mit einem Veto im Weltsicherheitsrat zu drohen, sollte die Entscheidung der UN serbischen Interessen zuwiderlaufen.

Koštunica, den manche nun als „Retter der Nation“ feierten, ergriff die Chance für Neuwahlen, die den Stimmenanteil seiner Partei erhöhten. „Er hat in der Frage des Status des Kosovo den Mächten der Welt getrotzt und ist weiter als Demokrat anerkannt“, sagen Mitstreiter stolz. Auch seine demokratischen Gegner merkten auf. Koštunica sei ein Modernisierer des Nationalismus, sagt der Liberale Čeda Jovanović. Eine brisante Entwicklung. Manche sehen in Koštunica gar – mit Blick auf Bosnien und hinter vorgehaltener Hand – ein Risiko für die „Stabilität der Region“.

„Das Kosovo müssen wir gemeinsam verteidigen: jeder Bürger, das ganze Volk“, verkündet er auf Wahlkampfveranstaltungen – und begeistert mit solchen Sprüchen die Massen, die die serbischen Fahnen in Rot-Blau-Weiß schwenken. Doch auch die proeuropäischen Parteien mobilisieren ihre Anhänger. Für viele von ihnen ist Kosovo verloren und Bosnien und Herzegowina ein anderer Staat. Sie wollen das Land weiter demokratisieren, es wirtschaftlich voranbringen und alle EU-Auflagen erfüllen – selbst die Kriegsverbrecher ausliefern. Mit der Liberalen Partei des immer populärer werdenden Jovanović, der Gruppe „G-17plus“ und der erstarkten Demokratischen Partei dürfte dieses Lager ein Drittel der Stimmen gewinnen.

Die Radikale Partei wird mit voraussichtlich 35 Prozent laut Prognosen wieder die stärkste Partei werden. Koštunica dürfte mit gut 20 Prozent für seine Serbische Demokratische Partei und seinem Bündnispartner, der Serbischen Erneuerungsbewegung, die sicher mit um die 10 Prozent ins Parlament kommt, in der Lage sein, zwischen den Extremen zu lavieren – und wieder eine Regierung zu bilden. Genau das ist die Rolle, die er sich wünscht. So kann er weiterhin selbstbewusst auftreten. An Koštunica führt auch in Zukunft in Serbien kein Weg vorbei.