YOANI SÁNCHEZ POLITIK VON UNTEN
: So fern von Kairo, so nah

Die Gesichter des Tahrir-Platzes erinnern uns an Kubas überfällige Rebellion. Aber auf die Straße gehen? Soweit ist es noch nicht

Die Szene dauerte nur ein paar Sekunden: auf dem Bildschirm ein kurzes Aufblitzen, das sich uns in die Netzhaut brannte. Tausende Menschen, die in den Straßen von Kairo demonstrierten. Ein kubanischer Nachrichtensprecher erklärte, die Krise des Kapitalismus habe die Unzufriedenheit in Ägypten eskalieren lassen, die sozialen Ungerechtigkeiten hätten die Menschen gegen ihre Regierung aufgebracht. Dass da eine Ära von dreißig Jahren in nur einer Woche zu Ende ging, ausgerechnet in Ägypten, wo sich Geschichte in Jahrtausenden misst – das erwähnte er kaum.

Wir mussten sofort daran denken, dass auch in unserem Land ein Autoritarismus von fünf Jahrzehnten sein Haltbarkeitsdatum überschritten hat. Vielleicht um uns gar nicht erst auf diesen Vergleich zu bringen, verbreiten die staatlichen Medien die Nachrichten aus Nordafrika nur sehr vorsichtig. Sie geben die Ereignisse löffelchenweise wieder, ohne die Motive zu betonen, die ein Volk dazu bringen könnten, der langjährigen Herrschaft eines über 82-Jährigen ein Ende zu setzen.

Trotz dieser journalistischen Geheimniskrämerei drangen Informationsfragmente zu uns, über verbotene Parabolantennen und über das schwer zugängliche Internet. Die offizielle Zurückhaltung konnte nicht verhindern, dass wir ergriffen die Bilder vom Tahrir-Platz sahen, der unter dem Rhythmus der Spontaneität bebte, während solch eine Offenheit hierzulande schon lange schmucklosem Grau gewichen ist. Es war unvermeidlich, dass wir uns angesichts der Menschenmenge in Kairo die Frage stellten, von der uns der kubanische Nachrichtensprecher abbringen wollte: Warum passiert so etwas nicht in Kuba? Unsere Regierung ist noch viel länger im Amt, der ökonomische Zusammenbruch ist schon lange unser täglicher Begleiter. Also was hindert uns, den Weg des gewaltfreien Protestes zu gehen? Ägypten ist dabei, uns aus dem Dämmerschlaf zu wecken, uns mit unserer Apathie zu konfrontieren – diese Nation, die Zeitrechnung in „revolutionären“ Ereignissen misst.

Die Theorie, es gebe mutige und feige Völker, ist einfach. Es gibt kein Gen für Rebellentum. Seit 1959 beschäftigt diese Insel Hellseher, Analysten, Kartenleger und Propheten. Angesichts zahlloser Auguren einer Zukunft, die niemals kam, können Millionen Kubaner ihr Verhalten mit einem Wort beschreiben: abwarten. Sie mögen die Illusion, sich eines Abends in einem Land ohne Bürgerrechte schlafen zu legen und morgens in einem demokratischen Kuba aufzuwachen. Wenn sich die Zeit des Ertragens zu lange hinzieht, beginnen sie, das Wort „auswandern“ durchzukonjugieren, oder entscheiden sich für die Silben des Wortes „stillhalten“.

Aber auf die Straße gehen? Nein. Der schwarze Asphalt dieser Straßen – so erzählen sie es uns, seit wir klein waren – gehört den Revolutionären, gehört Fidel Castro und der Kommunistischen Partei. Sie haben geschafft, dass wir glauben, dass nur andere irgendwo im Ausland öffentlich den Rücktritt ihrer Regierung fordern. Sie haben uns unsere Straßen genommen.

Um vorab zu verhindern, dass Menschenmengen auf die Straße gehen, aktivieren sie den unsichtbaren Kontrollmechanismus: die Angst. Die Überwachungsmaschinerie ist über uns. Im Moment tut sie alles, um zu verhindern, dass der Funke aus dem Osten überspringt. Denn auch wenn Kairo weit weg ist: Es gibt zu viele Gemeinsamkeiten zwischen Kubanern und den Gesichtern des Tahrir-Platzes. Sie haben Slogans gegen Mubarak gerufen. Aber auf unserer Seite des Bildschirms haben viele das Gefühl, dass sie auch uns ansprechen, dass sie uns zurufen, wir sollten uns schämen für unsere Trägheit.

Die Autorin lebt als Bloggerin in Havanna Foto: Reuters