DEUTSCHLAND GEGEN BRASILIEN IM PAVILLON: Näher am Weltempfang
RENÈ HAMANN
Das Unwetter hat sich rechtzeitig verzogen. Oder einfach eine Pause eingelegt, weil es auch das Halbfinale sehen wollte. Das Halbfinale. Über das Resultat brauche ich an dieser Stelle nichts mehr zu sagen.
Also, Pause vom Regen, im Pavillon herrscht freie Platzwahl. Der Pavillon ist ungefähr das, was man im Rheinischen ein Büdchen nennt, und steht am Paul-Lincke-Ufer Ecke Glogauer Straße direkt am Kanal. Er fristete lange ein Dornröschendasein, hatte erratische Öffnungszeiten und ein Schmuddelimage, das erst jetzt mit den neuen Besitzern verschwunden ist: Sie haben das Ding saniert und hübsch gemacht. Das kulinarische Angebot ist okay bis ausbaufähig, immerhin gibt es lecker Waffeln und einen guten Cortado. Zur WM haben sie einen HD-Flachbildfernseher in ordentlichem Format nach draußen gestellt. Eine Plane bietet Schutz vorm Regen. Rodríguez ist heute der Schiedsrichter. Die Nachbarschaft sammelt sich peu à peu um die sich anbahnende Sensation herum, das Spiel läuft.
Dann ein mehr lustiger als ärgerlicher Effekt: Hier läuft ein Konter über Khedira, der links versandet; es gibt Ecke. Dort brandet plötzlich Jubel auf: Jenseits des Kanals, wo ein Irish Pub die fast letzte Bastion gegen den um sich greifenden Hipsterwahnsinn gibt, scheinen die Rudelgucker ihrer Zeit voraus. Worüber jubeln die? Dann die Ecke – und Tor. Ach so!
Es sind dreißig Sekunden, die Neukölln näher am Weltempfang zu sein scheint als Kreuzberg. Die Jubelquelle ist glücklicherweise weit genug weg, der Wind steht auch nicht immer günstig, aber da wieder, ich kann es hören: Es muss etwas passiert sein! Richtig, Klose macht sein Rekordtor.
Und so geht das bekanntlich noch dreimal bis zur Pause, und nach der Pause dann noch zweimal.
Am Pavillon herrscht heitere, tiefenentspannte, verzückte Stimmung. Niemand flippt völlig aus, aber alle scheinen beseelt von diesem Spiel. Dass die Seleção in diesem Turnier lange über Wert gelaufen ist, was ihr hier allzu deutlich klargemacht wurde, ist das eine. Dass Schland zu dieser Demontage fähig ist, das Andere. Mich erinnerte das Spiel an die beiden Halbfinals in der Champions League im Vorjahr: Bayern gegen Barca (4:0 und 3:0). Nur war ich damals unendlich traurig. Heute kann ich diese Demontagekunst genießen.
Nach dem Spiel wird über den „vierten Stern“ fabuliert, der jetzt hermuss. Andere freuen sich über ein Finale gegen Holland: „Das geht dann ganz anders aus! Wie geil wäre das – 7:1 gegen die Brasas, und dann vergeigen sie das Endspiel knapp gegen van Gaals Oranje.“
Heimmannschaft: Ziemlich Deutschland, aber eher so Antifanmeile
Gästeblock: Nachbarschaft, Hipster, Politische, das junge Kreuzberg
Stadionimbiss: Waffeln, Sandwiches
Ersatzbank: Drüben der Irish Pub. Auf dem Bouleplatz wird bei sehr gutem Wetter auch ein Bildschirm aufgebaut
Rote Karte: Mindere körperliche Bedürfnisse. Der Toilettenanschluss fehlt
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