365 Tage vorbereitet auf schlechtes Wetter

Neun Meter hohe Wellen auf der Nordsee: Die Boote der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger fahren raus, wenn andere in die Häfen flüchten. Manche ihrer Kapitäne wollen das Wetter sehen, hören und riechen

Es gibt Leute, die fühlen sich erst wohl, wenn ihnen der Wind um die Ohren heult und die Gischt ins Gesicht spritzt. Ein Drittel der Kapitäne der deutschen Seenotrettungskreuzer stehe im Sturm lieber an einem offenen Ruderstand statt auf der geschützten Brücke, berichtet Andreas Lubkowitz von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). „Die draußen fahren, sagen: ‚Ich muss das Wetter sehen, hören und riechen‘.“

Neun Meter hohe Wellen sollte der gestrige Sturm nach Prognosen des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie auf der Nordsee aufschaukeln. Für die Retter aus Seenot gehören sie zu den normalen Arbeitsbedingungen. „Wir sind an 365 Tagen vorbereitet auf schlechtes Wetter“, sagt Lubkowitz. Auch besondere Vorsichtsmaßnahmen seien mit wenigen Ausnahmen nicht zu treffen gewesen. Im Gegenteil: Der in Büsum liegende Rettungskreuzer Hans Hackmack musste den Hafen verlassen, weil sich dieser vor der Sturmflut durch das Schließen seines Sperrwerks schützte. Der Kreuzer musste also draußen vor Anker gehen, um im Notfall einsatzbereit zu sein. Die Besatzung wisse mit dem Geschaukel auf schwerer See zu leben, versichert Lubkowitz. „Das ist nicht unkomfortabel für die“, behauptet er.

Trotz des schweren Wetters rechnete Lubkowitz gestern nicht mit einer Häufung von Einsätzen. Im Winter seien keine Wassersportler unterwegs, sondern bloß die Berufsschifffahrt. Letztere sei seit Mittwoch vorgewarnt gewesen und wisse sich vorzusehen. „Wir hatten auch schon Jahre, wo überhaupt nichts aus der Berufsschifffahrt kam“, sagt er. Die kleineren Schiffe würden gar nicht erst auslaufen. Den Größeren mache der Sturm nichts aus, sofern sie nicht mit Defekten zu kämpfen hätten: Ein Containerfrachter wurde gestern im Ärmelkanal durch einen Motorschaden zum Spielball der Elemente. Bis zum Nachmittag gelang es Briten und Franzosen, 13 von 26 Besatzungsmitgliedern zu retten.

Gegen die Tücke der See ist selbst das tüchtigste Schiff nicht gefeit. Lubkowitz zufolge kenterte vor zwölf Jahren der Seenotrettungskreuzer Alfred Krupp durch. Der Kapitän wurde aus dem offenen Fahrstand gespült und ertrank, ein Maschinist, der zufällig an Deck war, ebenfalls. Die meisten Retter habe die DGzRS am Anfang ihrer 140-jährigen Geschichte verloren, sagt Lubkowitz. Damals rückten die Männer in offenen Ruderbooten aus. 45 toten Rettern stünden 72.000 Gerettete gegenüber. Gernot Knödler