Kein herrlich laues Lüftchen

Orkan „Kyrill“ soll der stärkste Sturm seit Jahrzehnten sein. Gestern pfiff er bereits mit 191 Stundenkilometern über den Harz. Verkehr im Norden zum Teil eingestellt, Schulen und Arbeitsämter geschlossen. Schwere Sturmflut an der Westküste erwartet

Von Sven-Michael Veit

So ganz überzeugend ist der Name nicht. „Kyrill“ – „der Herrliche“ – heißt der Orkan, der seit gestern Mittag Norddeutschland durcheinanderwirbelt. Auf der ostfriesischen Insel Borkum wurden Böen von 122 Kilometern pro Stunde gemessen. Auf dem Brocken im Harz, mit 1.142 Metern der höchste Berg im Norden, erreichte der Sturm sogar rekordverdächtige 191 km/h. Das sei das erste große Hindernis in der norddeutschen Tiefebene, sagte Uwe Kirsche vom Deutschen Wetterdienst (DWD): „Da rollen die Fronten drauf.“

Bis zum frühen Abend hielten sich die Sturmschäden noch in Grenzen. Im Laufe der Nacht zu heute jedoch sollte „Kyrill“ zum stärksten Orkan seit Jahrzehnten angeschwollen sein. In allen Küstenländern wurden Katastrophenstäbe eingerichtet.

Sturmböen von 150 km/h prophezeite der DWD für die Nordseeküste. Damit verbunden sei eine „sehr schwere Sturmflut“, also der höchsten Alarmkategorie. Bis zu 5,50 Meter über Normalnull sollte das Nachthochwasser in Weser und Elbe auflaufen. Zugleich wurde vor ungewöhnlich heftigem Starkregen zwischen nördlichem Niedersachsen und südlichem Schleswig-Holstein gewarnt: Von bis zu 60 Litern pro Quadratmetern Niederschlag bis heute Morgen war die Rede.

Vor der Nordseeküste wurde der Fährverkehr zu allen Inseln im Laufe des Tages eingestellt. Auch auf der Ostsee blieben die Fähren nach Skandinavien ab dem Abend im Hafen. Lediglich die relativ kurze Strecke auf der Vogelfluglinie über den Fehmarnbelt zwischen Puttgarden und Rødby sollte in Betrieb bleiben. Die Fischerboote auf Nord- und Ostsee blieben vollständig in den Häfen.

Die Deutsche Bahn verhängte zunächst vorsichtshalber ein Tempolimit. Die normalerweise bis zu 300 Kilometer pro Stunde schnellen ICE-Züge fuhren seit dem Vormittag maximal Tempo 200, im Nahverkehr galt ein Limit von 140 statt 160 Kilometern pro Stunde. Am Spätnachmittag kam der Verkehr teilweise zum Erliegen: Ab 17 Uhr fuhren keine Züge mehr zwischen Hamburg und Hannover. Im Süden Hamburgs wurde auch der S-Bahn-Verkehr zeitweise wegen umgestürzter Bäume eingestellt.

An der Nordsee wurden die Autozüge zwischen Niebüll und Westerland auf Sylt eingestellt. Bei Itzehoe im Südwesten Schleswig-Holsteins prallte ein Intercity gegen einen vom Sturm abgebrochenen Baum, der auf die Gleise gefallen war. Hunderte Passagiere kamen aber mit dem Schrecken davon, verletzt wurde niemand. Der Zug wurde nach einstündiger Streckensperrung mit einer Ersatzlok nach Hamburg rangiert.

In weiten Teilen Norddeutschlands wurden Schulkinder seit dem Mittag nach Hause geschickt, in mehreren Landkreisen in Südwest-Niedersachsen bleiben die Schulen auch heute geschlossen. Die Agentur für Arbeit schloss gestern Nachmittag ihre sämtlichen Büros in allen Küstenländern. Arbeitslose, die einen Termin hatten, sollten einen neuen vereinbaren. Niemandem würden dadurch „Nachteile entstehen“, versicherte die Agentur.

Nach Einschätzung des World Wide Fund for Natur (WWF) liefern Winterstürme wie „Kyrill“ nur „einen Vorgeschmack auf das Klima der Zukunft“. Die Wahrscheinlichkeit, dass schwere Stürme zuschlagen, steigt nach Berechnungen der Umweltschutzorganisation vor allem an der Küste um etwa zehn Prozent. Betroffen wären vor allem die Häfen Hamburg, Bremen und Bremerhaven sowie die touristischen Regionen an den Küsten. Besonders gravierend dürfte sich die prognostizierte Zunahme der Windgeschwindigkeiten von bis zu 16 Prozent auswirken: „Damit steigt zugleich die Zerstörungskraft der Orkane“, sagt WWF-Klimaexperte Matthias Kopp. „Schon ein geringfügiger Anstieg der Spitzengeschwindigkeiten kann zu einer Vervielfachung der Schäden führen.“

Auf der 61 Meter hohen Felseninsel Helgoland hingegen wurde der Orkan gelassen ausgesessen. „Der Wasserstand interessiert uns nicht, sagte Kurdirektor Christian Lackner. „Aber es schifft ohne Ende.“

Geschäftstüchtig harrten allein einschlägige Handwerksbetriebe der Dinge: Die Innungen der Dachdecker und Glaser in Bremen und Niedersachsen teilten bereits am Mittag mit, „9.000 Handwerker für Notfalleinsätze bereitzuhalten“. Und der Versicherungskonzern Axa versicherte, die Kosten für Sturmschäden „kundenfreundlich“ zu übernehmen: Ab Windstärke 8 würde gezahlt: läppische 62 Stundenkilometer.